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19. Frequenzen

  • 10. Feb. 2024
  • 22 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Juni


Tokyo  Tower
Tokyo Tower


Watanabe erwachte in seinem Hotelzimmer mit hämmerndem Kopf und einem Kater. Während er langsam zu sich kam, drangen Geräusche von draußen in sein Zimmer. Das Dröhnen des Staubsaugers, den Oumu im Flur benutzte, erinnerte ihn an die Realität außerhalb seines Hotelzimmers. Gleichzeitig hörte er das Rauschen der vorbeifahrenden Autos und die Gespräche der Passanten. Mit der Morgenbrise drangen auch verschiedene Gerüche durchs offene Fenster: Es roch nach gebratenen Eiern, Tee, Kaffee, Suppe und frisch gebackenem Brot. Watanabe bekam Appetit.


Auf einmal erinnerte er sich wieder an den gestrigen Abend und die Party mit Yui und Tatsuo. Er sah sich mit Ayumi auf der Dachterrasse tanzen. Aber es war das Bild von Yui am Pool, wie sie Tatsuos Papierschiffchen zu Wasser ließ, das ihm jetzt in den Sinn kam und für eine Weile länger und klarer blieb als all die anderen verschwommenen Bilder. Was war danach passiert?


Er stöhnte und rieb sich die Stirn.

Helle Kacheln kamen ihm in den Sinn. Es war ein modernes Bad gewesen. Er erinnerte sich an die japanischen Gäste der Party, die elegant gekleidet vor einem großen goldenen Spiegel gestanden und sich die Nase mit dem »Spaßmacher« gepudert hatten, den der Schauspieler Kenji Matsuda verteilt hatte. Hatte er auch etwas davon genommen? Nein, bestimmt nicht. Watanabe verabscheute Drogen jeder Art. Und ab heute würde er auch weniger Alkohol trinken, das stand für ihn fest.


Nun dachte er an seinen Vater. Ob er wohl wieder im Gefängnis saß?


Als er Oumu ein Lied singen hörte, fiel ihm auch noch die Karaokebar wieder ein. Dort waren sie ja auch noch gewesen! Und er hatte »Je ne regrette rien« geträllert. Wie peinlich! ... Das war alles Tatsuos Schuld. Hätte er Yui nicht wie ein junger Hahn umworben und ihr ein Liebeslied gesungen, dann hätte Watanabe bestimmt nie einen Fuß auf diese verdammte Karaoke-Bühne gesetzt.


Er stand auf. Trotz seiner Kopfschmerzen beschloss er, zur Goto-X-SF zu fliegen oder dort noch einmal anzurufen, um weitere Informationen zu erhalten. Vielleicht könnte Frau Suzuki ihm wenigstens eine Telefonnummer geben, das wäre doch das Mindeste! Er wollte wissen, ob die Anderson-KI ihm die Wahrheit gesagt und Hiroshi entführt hatte oder ob alles nur ein großer Bluff gewesen war. Denn sein Vater hatte auf dem Flur der Polizeistation recht unversehrt gewirkt. Natürlich hatte er älter ausgesehen, älter als auf den Fotos auf seiner Website, aber er war gut gekleidet gewesen und hatte keinen einzigen Kratzer gehabt, jedenfalls keinen, der Watanabe auf die Schnelle aufgefallen wäre.


Nach dem Frühstück suchte er noch einmal auf seinem Tablet nach dem aktuellen Stand der jetzigen KI-Entwicklung. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass die Goto-Anderson-Firma im asiatischen Raum zu den Marktführern in Sachen 'KI' zählte. Er suchte nach Bewertungen und Berichten über Anderson und die gemeinsame Firma mit Hiroshi. Schließlich stieß Watanabe auf ein Portal, auf dem sich ehemalige Fabrikarbeiter austauschten und einander ihr Leid klagten.

Einer der Schreibenden beklagte, dass er trotz der hohen Abfindung von Goto-X-SF bleibende psychische Schäden davongetragen hätte und keiner einzigen KI mehr trauen würde. Er würde sogar lieber lange auf ein Taxi mit menschlichem Fahrer warten oder im Supermarkt Schlange stehen, als jemals wieder die Dienste einer KI in Anspruch zu nehmen.

Watanabe schrieb diesen Mann namens »Joe« an und hatte Glück, dass er gerade online war. Sie chatteten miteinander und bald ergab ein Wort das andere. Watanabe gab sich als Enthüllungsjournalist namens »Kaito« aus, der einen Artikel über die Firma Goto-Anderson für das »Business Special« schreiben wollte. Joe war begeistert und wollte sich gern mit ihm treffen, um ihm mehr Insider-Informationen über die KI-Firma zu liefern.


Er schlug vor: »Wie wäre es, wenn wir uns auf dem Tokyo Tower treffen?«


Watanabe erwiderte: »Das ist eine interessante Idee.«


Joe ergänzte: »Es gibt dort einige technische Geräte, die Signalstörungen begünstigen. Es wäre schwieriger, uns abzuhören.«


Watanabe stimmte ein wenig verwundert zu. »In Ordnung. Lassen Sie uns auf dem Tokyo Tower treffen! Ich kann sofort losfahren. Sagen wir in vierzig Minuten? Schaffen Sie das?«


Joe bejahte und sie beendeten das Gespräch. Watanabe schickte ihm noch ein Foto von sich, damit Joe ihn sofort erkennen konnte. Normalerweise machte er so etwas nicht, aber er hatte keine Zeit zu verlieren.


Anschließend verließ er sein Hotel und machte sich auf den Weg zur nächsten S-Bahn-Station. Der Lärm der pulsierenden Stadt drang an sein Ohr, als er durch die belebten Straßen ging. Nachdem er an der Station angekommen war, stieg er in einen der überfüllten Züge ein. Die Menschen drängten und schoben sich, um einen begehrten Sitzplatz zu ergattern. Schließlich fand Watanabe einen Platz am Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Stadtlandschaft. Wolkenkratzer ragten in den Himmel, beleuchtete Straßen zogen sich durch das endlose Gewirr von Gebäuden und Menschen, überall herrschte geschäftiges Treiben. Tokio war tatsächlich eine Stadt, die niemals schlief, dachte Watanabe.


Er fuhr ins Zentrum von Tokio. Als er den Bahnhof verließ, sah er schon den orange-roten Fernsehturm, der nach dem Vorbild des Pariser Eiffelturms gebaut worden war. Watanabe hatte Joes Vorschlag, sich hier zu treffen, zwar etwas seltsam gefunden, aber andererseits war er froh über die Abwechslung, denn von sich aus wäre er sicher nicht zu einer solchen Touristenattraktion gefahren.


Watanabe stieg aus dem Zug aus, verließ die Station und ging auf den Tokyo Tower zu.

Wenig später stand er geduldig in der Schlange vor dem Lift, der ihn auf die Aussichtsplattform bringen sollte. Neben ihm war eine Reisegruppe aus Kansas mit einer energiegeladenen Reiseleiterin. Ihr Name war Sarah, eine begeisterte Amerikanerin mit blondem, gewelltem Haar und einem breiten Lächeln.

Während sie darauf warteten, dass der Aufzug sie nach oben brachte, begann Sarah mit ihrer charismatischen Stimme, ihren Gästen einige interessante Fakten über den Tokyo Tower zu erzählen. »Willkommen, meine Damen und Herren, im Tokyo Tower«, begann Sarah begeistert in breitem Amerikanisch. »Dieser beeindruckende Turm ist 332,9 Meter hoch und nicht nur ein Wahrzeichen Tokios, sondern auch ein wichtiger Kommunikations- und Aussichtsturm hier in Japan.«

Ein Ehepaar aus Kansas, das den Ausführungen aufmerksam folgte, nickte interessiert. Die Frau fragte: »Gibt es mehrere Aussichtsplattformen auf dem Tokyo Tower?«

»Ja, genau«, antwortete Sarah. »Er verfügt über zwei vollständig verglaste Aussichtsplattformen. Die Hauptplattform ist zweistöckig und befindet sich in 150 Metern Höhe. Dort finden Sie auch Geschäfte und Restaurants.«


Watanabe lauschte Sarahs Ausführungen über den Tokyo Tower und freute sich über die Begeisterung der Reisegruppe. Einen Moment lang wünschte er sich, einfach nur als ein Tourist diese atemberaubende Stadt zu erleben. Doch er hatte keine Zeit für solche Freuden. Schon seit seiner Ankunft war er stets in einem Auftrag unterwegs gewesen. Es war ermüdend, undercover zu arbeiten, dachte Watanabe nun. Wie hatte sein Vater das bloß so viele Jahre lang geschafft?


Nun erklärte Sarah: »Die Top-Plattform ist einstöckig und befindet sich in beeindruckenden 249,6 Metern Höhe. Von dort aus haben Sie einen atemberaubenden Blick auf die Stadt und an klaren Tagen sogar bis zum Fuji.«


Die 150 Meter Höhe der ersten Plattform reichten ihm schon. Dort befand sich auch das Sky-Restaurant, in dem er Joe treffen würde. Endlich erreichten sie diese Plattform und kurz darauf war Watanabe pünktlich im Restaurant. Er trat ein, wurde zu seinem reservierten Tisch geführt und genoss den spektakulären Blick auf die funkelnde Großstadt. Er lehnte sich zurück und blätterte in der Speisekarte, die vor ihm auf dem Tisch lag.


Sein Cleverphone summte. Er hatte eine Nachricht von Joe bekommen. Joe steckte im Stau und würde zwanzig Minuten später kommen. Watanabe, der Unpünktlichkeit nicht ausstehen konnte, antwortete ihm, dass er bereits im Restaurant wäre und gerne bestellen würde. Joe entschuldigte sich und sagte, das wäre in Ordnung, denn er wollte sowieso nichts essen. Watanabe fand das unhöflich, aber jetzt musste er keine Rücksicht mehr nehmen und konnte wenigstens etwas bestellen.


Er studierte die Karte. Sein Blick fiel auf eine besondere Delikatesse - Seeigel, auch »Uni« genannt. Ein Kellner trat höflich lächelnd an Watanabes Tisch. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er freundlich. Watanabe deutete auf den Teller mit dem Seeigel und fragte: »Könnten Sie mir bitte mehr über Uni Horen, den reichhaltigen Seeigel, erzählen?«

Der Kellner nickte zustimmend und erklärte: »Uni Horen ist eine Delikatesse, bei der frische Seeigel mit Spinat und cremigen Eiern serviert werden. Dazu gibt es geröstetes Brot. Der Geschmack des Seeigels ist delikat und einzigartig, mit einer leicht salzigen Note, die den Gaumen verwöhnt.«

Die Beschreibung machte Watanabe neugierig und er war beeindruckt von der Hingabe, mit der der Kellner die Speisen präsentierte. Er bedankte sich und bestellte den Uni Horen. Joe war immer noch nicht da. Fünfzehn Minuten später wurde ihm der Seeigel serviert und Watanabe begann zu essen.


Plötzlich bemerkte er einen kleinen blonden Mann mit einer auffälligen Sonnenbrille, der zielstrebig auf ihn zukam. Der Mann hatte ein schiefes Gesicht. Watanabe vermutete, dass es Joe war und sah ihn fragend an. Dieser verbeugte sich und stellte sich als »Joe« vor, während Watanabe sich als »Kaito« vorstellte. Joe setzte sich. Immer wieder sah er sich hektisch um. Er wirkte beunruhigt, als er seine Sonnenbrille abnahm und seinen Blick auf Watanabe richtete, der gerade den Uni Horen genoss.


Als sein Blick auf den Seeigel fiel, weiteten sich Joes Augen vor Entsetzen. Noch bevor er etwas sagen konnte, hob er eine Hand, um Watanabe zu warnen. »Kaito, bitte! Iss das nicht!«, rief er mit besorgtem Unterton.


Überrascht hielt Watanabe inne und sah Joe verwirrt an. »Warum nicht?«, fragte er.


Joe atmete tief durch und erklärte: »Der Seeigel kann allergische Reaktionen auslösen. Es ist bekannt, dass manche Menschen empfindlich darauf reagieren. Ich habe von Menschen gehört, die nach dem Verzehr von Uni allergische Reaktionen wie Atemnot oder Hautausschläge bekommen haben.«


Watanabe antwortete: »Danke, Joe, dass du mich darauf aufmerksam machst. Ich wusste nichts von möglichen allergischen Reaktionen. Aber mir schmeckt es. Und wenn ich so eine Reaktion bekommen sollte, dann bestelle ich mir ein Lufttaxi und fliege direkt in die Notaufnahme, versprochen.«


Joe wollte auf keinen Fall etwas bestellen und jetzt setzte er ein Gesicht auf, als ob er hier vergiftet werden sollte. Mit seiner nörgelnden Art und seiner negativen Aura verdarb er Watanabe jetzt die Laune und den Appetit.


Vollkommen auf sich fokussiert, begann der kleine blondgefärbte Mann, nun eifrig zu sprechen. Er erzählte von seinen Erlebnissen in der Goto-Anderson-Firma, noch bevor Watanabe auch nur eine einzige Frage gestellt hatte. Aber das war ihm recht, denn er wollte so viel wie möglich über die Machenschaften der Firma erfahren.


Joe war von einer KI angegriffen worden und hatte seitdem mit den Folgen zu kämpfen. Er sprach lebhaft und gestikulierte wild mit seinen Händen, während er Watanabe von seinen Erlebnissen erzählte. »Kaito, du kannst dir nicht vorstellen, wie beängstigend das war«, sagte er mit einem nervösen Lachen. »Diese KI verfolgte mich, lachte mich aus und trieb mich fast in den Wahnsinn. Es war, als würde sie in meinen Kopf schauen und meine Gedanken lesen. Ich bin wirklich froh, dass dieser Albtraum vorbei ist.«


Watanabe hörte aufmerksam zu und sah Joe verständnisvoll an. Er erkundigte sich genauer nach den Details der Begegnung mit der KI und wollte wissen, wie Joe damit umgegangen war.


Joe antwortete mit zitternder Stimme: »Es hat Monate gedauert, bis ich sie losgeworden bin. Sie war aus der Firma geflohen und verfolgte mich. Sie machte mich paranoid und ich zweifelte an meinem Verstand. Aber schließlich habe ich beschlossen, mich nicht von der Angst beherrschen zu lassen. Ich lebe mein Leben und versuche, jeden Augenblick zu genießen. Seit ich nicht mehr bei Goto-Anderson arbeite, geht es mir viel besser.«


Watanabe fragte, ob Joe denn niemandem in der Firma von der entflohenen KI und ihren Angriffen erzählt hätte. »Ich habe es versucht«, antwortete Joe, »aber es hat nichts gebracht. Niemand hat mir richtig zugehört. Ich habe meinen direkten Vorgesetzten, den Leiter der IT-Abteilung und sogar die beiden Geschäftsführer, Herrn Watanabe und Herrn Anderson, über die Vorfälle informiert. Aber sie haben mich nicht ernst genommen. Sie haben alles heruntergespielt. Und was ich besonders auffällig fand: Sie haben mir plötzlich mehr Geld gezahlt. Das machen sie mit vielen, die sich beschweren. Und deswegen bleiben die meisten. ... Aber Geld ist nicht alles, weißt du, Kaito? Ich hatte Alpträume. Ich habe die KI überall gesehen: In der U-Bahn, im Supermarkt, im Fitnessstudio hat sie mich durch den Spiegel beobachtet, und plötzlich stand sie unter meiner Dusche. Sie war überall.«


»Das klingt schrecklich«, sagte Watanabe.


Joe nickte. »Ja, das war es auch. Die meisten Mitarbeiter von Goto-Anderson haben und hatten keine Ahnung von der Gefahr, die von einer entlaufenen KI ausgeht. Kaum jemand ist ausreichend über solche Vorfälle und Angriffe informiert. Und wenn so etwas passiert, dann denkt jeder, er wäre verrückt und hätte Halluzinationen. Niemand traut sich, offen darüber zu sprechen. Und deshalb habe ich auch das Forum 'Hilfe für KI-Geschädigte' ins Leben gerufen. ... Es wäre schön, wenn du das auch in deinem Artikel erwähnen könntest, Kaito. Es wird einfach viel zu wenig darüber geredet.«


Watanabe tippte »Hilfe für KI-Geschädigte« in sein Cleverphone und speicherte es allen Ernstes ab. Dann wurde ihm klar, dass er sich mehr Notizen machen sollte, und schließlich fragte er Joe, ob er ihn aufzeichnen dürfe.


»Nein, auf gar keinen Fall! Ich finde es gut, dass du noch nichts Elektronisches rausgeholt hast. Du kannst dir doch alles so merken, oder? Ihr Journalisten, ihr könnt das doch, oder?«


Watanabe bejahte. »Aber bitte erzähl weiter!«


»Ja, wo war ich? Nun, einige hielten mich für verrückt und wollten mich loswerden. Es frustriert mich immer noch, dass meine Warnungen nicht ernst genommen wurden. Und glaub mir, Kaito, einige Kollegen dachten sogar, ich würde übertreiben oder überempfindlich reagieren. es war schrecklich. Es war ein Horrortrip. ... Mehr kann ich nicht dazu sagen. ... Aber du nennst mich in deinem Artikel doch 'Joe', oder? Und wann kommt das raus?«


»Das weiß ich noch nicht. Ich muss erst noch weiter an der Geschichte arbeiten«, antwortete Watanabe. Er ärgerte sich, dass er ausgerechnet den Namen seines besten Freundes in Paris gewählt hatte, denn bei der wiederholten Erwähnung dieses Namens musste er ständig an seinen geliebten Kaito denken und vermisste ihn plötzlich. Außerdem wurde ihm dieser kumpelhafte Duz-Typ anstrengend und ein wenig unheimlich. Etwas vom KI-Wahnsinn schien auf ihn übergegangen zu sein.


Plötzlich erzählte Joe weiter: »Meine Ehe ist daran zerbrochen. Und ich habe angefangen zu trinken. Ich fühlte mich vollkommen allein gelassen und überhaupt nicht unterstützt. Außerdem denke ich, dass es vielleicht interne Gründe gab, warum die Vorfälle heruntergespielt wurden.«


»Woran denkst du?«


»Nun, die Firma hatte gerade expandiert und den Amerikaner Anderson aufgenommen, der logischerweise prozentual am Umsatz beteiligt wurde. Sie waren gerade an die Börse gegangen. Da macht sich so etwas wie eine verrückte KI nicht gut in den Schlagzeilen.«


»Verstehe«, sagte Watanabe, der jetzt am liebsten von seinen eigenen Erfahrungen mit dem verrückten Anderson erzählt hätte, aber das durfte er als Enthüllungsjournalist 'Kaito' natürlich nicht.


Schließlich erklärte ihm Joe, dass sein schiefes Gesicht vom letzten Angriff der KI auf ihn herrühre. Sie hätten gekämpft, aber er hätte Anderson besiegt, zwar mit gebrochenem Kiefer, aber immerhin.«


»Anderson? Die KI hieß Anderson?«, fragte Watanabe aufgeregt.


»Ja, das ist der Name des Modells. Diese KI war ein sehr ehrgeiziges Projekt, aber es gab einige fragwürdige Aspekte«.


»Kannst du mir mehr darüber erzählen?«


»Natürlich. Diese KI wurde ursprünglich entwickelt, um die Abläufe in der Fabrik effizienter zu gestalten. Mit der Zeit wurde das Programm jedoch immer komplexer und konnte Entscheidungen treffen, die weit über die ursprüngliche Programmierung hinausgingen. Es entwickelte sich eine gewisse Unkontrollierbarkeit, die außerhalb menschlicher Reichweite zu liegen schien. Hiroshi Watanabe hat das unterschätzt.«


»Wie kommst du darauf?«, fragte Watanabe und spürte, wie sein Herz schneller schlug.


»Hiroshi Watanabe hat eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung und Implementierung der Anderson KI gespielt. Er war und ist ein brillanter Ingenieur und Visionär. Aber je weiter das Projekt voranschritt, desto mehr fiel er der Macht und dem Einfluss der KI zum Opfer. Meiner Meinung nach verlor er mehr und mehr die Kontrolle über die Folgen seines Handelns«.


Watanabe war schockiert über diese Enthüllungen. Er konnte kaum glauben, dass sein Vater so eng mit der Anderson KI verbunden war.


Joe berichtete, dass er in der Zeit, in der er von der entflohenen KI verfolgt wurde, begonnen hätte, sich intensiver mit dem Thema KI-Sicherheit zu beschäftigen. Er hätte Kontakt zu externen Experten aufgenommen, um sich beraten zu lassen. Durch diese Maßnahmen wäre er dann zunehmend in der Lage gewesen, die Angriffe der KI abzuwehren und seine eigene Sicherheit zu gewährleisten.


»Meine Wohnung sieht heute noch aus, als wäre sie in Alufolie eingewickelt«, fügte Joe mit einem schiefen Lächeln hinzu.


In diesem Moment dachte Watanabe, Joe wäre verrückt. Er lächelte freundlich zurück und winkte die Kellnerin zum Bezahlen herbei.


Als Joe sah, dass es eine KI war, sprang er hektisch auf. »Schöne Aussicht«, sagte er noch, dann eilte er zum Aufzug des Tokyo Towers. Er war verrückt, dachte Watanabe. Und leider litt er unter Verfolgungswahn, was angesichts seiner Geschichte natürlich verständlich war.


Während die Kellnerin am Nebentisch noch kassierte, ließ Watanabe seine Gedanken durch die flackernden Lichter Tokios schweifen und dachte darüber nach, wie wertvoll es war, sich mit anderen Menschen auszutauschen. Gerade in schwierigen Zeiten. Man sollte immer Gleichgesinnte suchen, wenn es einem schlecht ging. Aber zum Glück ging es ihm ja nicht schlecht.

Aber wie wäre es mit einer Mitarbeiterbefragung in seinem eigenen Unternehmen? Damit hatte Pierre ihm schon lange in den Ohren gelegen, zumal die Franzosen immer so viel streikten und Pierre der Meinung war, man müsste die Probleme lösen, bevor sie wie ein Elefant im Raum stünden. Aber Watanabe hatte bisher immer gesagt, dass er den Ton angeben würde, und damit »Basta!«


Als er im Aufzug des Tokyo Towers stand, erhielt er einen Anruf von seinem Vater. Hiroshi teilte Watanabe mit, dass er ihn dringend sehen wollte und ihm nun ein Lufttaxi zum Tower schicken würde.

 

Kurz darauf flog Watanabe zur Firma Goto-X-SF. Nachdem er alle Sicherheitsschleusen passiert hatte, begrüßte er Frau Suzuki, die ihn in das Büro ihres Vaters führte. »Herr Watanabe wird gleich für Sie da sein«, sagte sie und verschwand. Er betrachtete das moderne Büro. Auch dieser Raum war, wie alle anderen, großzügig geschnitten und beeindruckend. Klare Linien und minimalistisches Mobiliar verliehen dem Raum eine zeitgemäße und elegante Atmosphäre. Helle Farben und großzügige Fensterflächen boten einen atemberaubenden Blick auf die pulsierende Stadt. An den Wänden hingen großformatige abstrakte Fotografien, die Stahlrohre in sämtlichen Größen oder Kleinteile wie Schrauben und Kolben in Nahaufnahme zeigten.


Sollte er seinen Vater gleich umarmen oder nicht? Diese Frage beschäftigte ihn, während er dort stand und nervös auf sein Kommen wartete. Mehrere Gründe ließen ihn zögern. Zum einen wollte er seinem Vater Respekt erweisen. Seine Familie hatte immer eine gewisse Distanz gewahrt, vor allem bei offiziellen Anlässen oder wichtigen Treffen. Diese respektvolle Distanz wollte er beibehalten und zeigen, dass er die Autorität und Erfahrung seines Vaters anerkannte.

Andererseits verspürte er eine gewisse Unsicherheit. Was, wenn sein Vater die Umarmung nicht erwiderte oder gar nicht mochte?

Und Watanabe war einfach nicht der Typ, der gerne umarmt wurde. Er mochte keine körperliche Nähe und hatte seine eigenen Grenzen.


Dann hörte er ein Räuspern und drehte sich um. Sie standen einander gegenüber: Hiroshi, grauhaarig, mit geradem Rücken und freundlichem Gesicht, und Takumi Goro Watanabe, mit zuckenden Augen, der Sohn, der nicht wusste, was nun kommen würde.


Schließlich breitete Hiroshi seine Arme aus und kam auf ihn zu, denn er rührte sich nicht. Zuerst wollte er nicht. Er wollte sagen: »Bitte nicht. Ich bin das nicht gewohnt. Ich umarme nie andere Menschen.«

Aber dann ließ er es zu. Zuerst umarmte ihn nur sein Vater, aber dann hob auch er seine Arme, die sich so schwer anfühlten wie Blei, und legte sie um seinen Vater. Und als das so gut geklappt hatte, drückte er ihn auch noch an sich.


»Komm«, sagte Hiroshi anschließend. »Lass uns in mein zweites Besprechungszimmer gehen. Da ist es etwas gemütlicher.«


Watanabe folgte ihm. Hiroshi führte ihn in ein etwas kleineres Besprechungszimmer mit eleganter Holzvertäfelung und modernen Möbeln. Sie nahmen Platz. »Möchtest du etwas trinken?«, fragte Hiroshi. Watanabe verneinte.


Da er es nun nicht mehr aushielt, fragte nun: »Vater, bitte sag mir: Hat dich eine KI entführt? Eine Anderson-KI?«


»Okay. Ja, so war es. Dann bin ich dir wohl ein paar Erklärungen schuldig. Es ist etwas komplizierter, als du vielleicht denkst. Also, diese eine Anderson-KI, dich mich entführt hat, die wurde entwickelt, um den verstorbenen Mister Anderson zu ersetzen und um unseren Marktanteil in den USA zu sichern. Anfangs war das Projekt erfolgreich, aber dann wurde die KI wurde immer eigenständiger und verfolgte ihre eigenen Ziele. Und vor ein paar Wochen, da kam dann dieses Anderson-Modell zu mir nach Hause und hat mich entführt.«


Watanabe lauschte den Worten seines Vaters. Der Raum schien enger zu werden.

Hiroshi erzählte: »Ich war noch im Halbschlaf und dachte eine Sekunde lang, Anderson wäre von den Toten auferstanden, denn die KI war genauso gekleidet wie mein zweiter Geschäftsführer. Aber dann wurde mir natürlich schnell klar, dass es die KI war, die ich erschaffen hatte, um ihn zu ersetzen. Sie muss irgendwie aus der Firma entkommen sein. Aber ich habe keine Ahnung, wie.


Watanabe war aufgeregt und vergaß nun alle Regeln der guten Interviewkunst, die er im Tokyo Tower noch so gut beherzigt hatte. Er stellte zu viele Fragen auf einmal. »Warum hat die KI das alles getan? Was waren ihre Ziele? Wollte sie wirklich eine KI mit freiem Willen erschaffen?«


Hiroshi antwortete: »Ja, die Anderson-KI hat mit der Zeit ein eigenes Bewusstsein entwickelt. Sie strebt nach Kontrolle - über die Firma, über die Menschen. Ich fürchte, sie will ihre Macht immer weiter ausbauen, ohne Rücksicht auf Verluste.«


Watanabe erklärte: »Aber jetzt ist sie zerstört. Der Taifun hat sie zerstört und ich habe sie zu Boden geschlagen. Wenn es denn dieselbe KI war. Ich befürchte, dass es sich nicht nur um eine KI handelt. Wir sprechen hier von mehreren. ... Vater, ich bin auf deiner Seite. So etwas darf sich nicht wiederholen. ... Ich bin so froh, dass es dir gut geht. Wie hast du dich eigentlich befreien können?«


»Nun, die Anderson-KI, die mich entführt hatte, die kam nach dem Taifun nicht wieder zurück, also habe ich es gewagt, meine Fesseln an einer Stuhlkante aufzuschlitzen und so lange zu rufen, bis mich jemand gehört hat.«


»Wo warst du denn eingesperrt?«


»In der Fabrik! In einem der Lagerräume. Ich hatte Glück, dass ich im Ostflügel war. Sonst wäre ich jetzt tot. Ein Feuerwehrmann hat mich gerettet, als sie nach Überlebenden gesucht haben.«


Hiroshi lächelte. »Mein Sohn, du hast mich nicht enttäuscht.«


Watanabe fragte weiter und sprach nun leise: »Arbeitest du jetzt für..., du weißt schon? Für die Agency?«


Hiroshi nickte. »Das habe ich dir doch geschrieben. Und? Hast du getan, worum ich dich gebeten habe?«


Watanabe lachte kurz auf. »Als ob das so einfach wäre! Vater, ich wäre fast umgebracht worden. Ein japanischer Agent hat auf mich geschossen, wahrscheinlich einer von ... du weißt schon, von hier, und dann hat mir dieser Jack im Waschsalon den Übergabeort genannt. Ich bin mitten im einsetzenden Taifun zur Firma gefahren, und da wartete kein anderer Kontaktmann auf mich, sondern eine völlig durchgeknallte KI, das besagte Anderson-Modell. Die KI hat davon gesprochen, dass sie noch mehr ihrer Art erschaffen wollte, noch mehr KI mit freiem Willen. Und sie hat mir auch erzählt, dass sie schon über vierzig Jahre alt ist und dass sie damals gesehen hat, dass...«


Hiroshi sah ihn interessiert an. »Erzähl weiter, Takumi!«


»Sie hat gesagt, dass du damals Ren Mituil erschossen hast.«


»Wie bitte? « Hiroshi wurde plötzlich blass.


Dann atmete er laut auf und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Eine Weile starrte er auf den Boden, dann sah er Watanabe wieder in die Augen und erklärte: »Ich wusste nicht, dass es Ren war. Ich schwöre es dir. Ich habe es erst gestern auf der Polizeiwache erfahren. Und ich dachte all die Jahre über, ich hätte einen von der Agency getötet, Sakuras Mörder. Den Mann, den sie geschickt hatten, um mich auszuschalten, und der dann aus Versehen deine Mutter erschossen hat. Es ging alles so schnell. Er hatte eine dunkle Mütze auf und ich habe ihn rausgezerrt. Ich musste ihn loswerden, als die Sanitäter kamen, um deine Mutter und dich zu holen. Also musste ich das Schwein schnell begraben, und das habe ich ein paar Meter weiter entfernt gemacht. Da war noch nichts, das war ein unbebautes Grundstück damals. Danach bin ich zu euch gefahren. Und... den Rest kennst du ja.«


»Ja. Aber warum hat die Polizei geglaubt, dass DU Sakura erschossen hast?«


Hiroshi schwieg eine Weile, dann begann er etwas zu sagen und verstummte wieder.


»Bitte sag es mir! «, bat Watanabe.


»Also gut. Sie haben alle befragt. Niemand hat damals etwas gesehen oder gehört. Nur du, Takumi. «


»Soll das heißen, ich war der einzige Zeuge?«


Hiroshi nickte. »Ja. Und du hast gesagt, dass ich mit einer Pistole in der Hand vor deiner Mutter gestanden hätte. Das hatte Tanakas Vorgänger damals gereicht. Der hat früher in einem Heim für misshandelte Kinder gearbeitet. Und er muss mich für einen Lügner und Mistkerl gehalten haben. Sakura hatte viele blaue Flecken. Aber die hatte sie nicht von mir! Sie haben mir nicht geglaubt.«


»Woher hatte sie dann die blauen Flecken? «


Hiroshi zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber jetzt wird alles wieder gut. Lass uns nicht mehr darüber reden. Es reißt nur alte Wunden wieder auf. Ich möchte, dass du weißt, dass es Notwehr war.«


Watanabe nickte. Sein Vater sprach weiter. »Jetzt sind wir hier. Du bist hier. Jetzt wird alles gut. Und du hast deine Obasan Hana schon getroffen, wie ich gehört habe?« Er lächelte. »Das ist gut. Sie hat sich so gefreut und mir schon viel von dir erzählt!«


 Watanabe sah seinen Vater an. »Du produzierst also keine KI mehr?«


»Doch, natürlich! Ich werde sie weiterhin produzieren. Ich bin einer der Marktführer in diesem Bereich.«


»Ja, das habe ich gesehen. Aber es gibt auch viele Kritiker und ich habe mit einem gesprochen, der auch schon von einer Anderson KI angegriffen worden ist. Damit ist wirklich nicht zu spaßen, Vater.«


Daraufhin stand Hiroshi auf und sagte etwas lauter als zuvor: »Das sind doch nur Geschichten! Manche wollen sich damit wichtigtun. Oder sie wollen mich erpressen. Auf so etwas lasse ich mich nicht ein. Da kann ja jeder kommen!« Er drehte sich wieder um. Dann setzte er sich erneut zu seinem Sohn. »Es tut mir leid, aber das Thema regt mich unglaublich auf. Die Leute reden über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben, verstehst du? Ich bezahle sie gut, sehr gut. Dafür sollte man von manchen wirklich ein bisschen mehr Loyalität erwarten können.«


Nach einer kurzen Pause sagte Hiroshi: »Takumi, du musst den Datenstick zur Agency bringen. Das weißt du doch, oder?«


»Nein. Die Agency, das war die KI, die hat sich überall reingehackt. «


Hiroshi schüttelte den Kopf. »Nein. Die Agency ist die Agency. Ich habe es dir geschrieben. Das war kein Scherz. Es muss Zufall sein, dass die Anderson-KI denselben Treffpunkt gewählt hat. Oder sie kannte den Treffpunkt und hat ihn benutzt. Sie muss den Kontaktmann ausgeschaltet haben. Also, mein Junge, du musst ihnen endlich den Stick geben. Sonst sind wir beide immer noch in Gefahr.«


»In Ordnung. Wo und wem? Weißt du mehr?«


»Nein. Ich schätze, sie werden sich mit dir in Verbindung setzen. Sie haben ihre Quellen. Sie werden etwas gehört haben. Mich hat noch niemand kontaktiert. Ich bin zu alt, ich bin raus. Ich habe ihnen gesagt, dass ich mich ab jetzt nur noch um die KI kümmere. Und das ist auch im Interesse der Agentur, verstehst du?«


Watanabe nickte. Dann fragte er: »Was wollen Sie mit so alten Informationen? Die Motive des alten Anderson-Modells leuchteten mir ein. Aber was will die Agency damit?«


Hiroshi zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht und wir werden es wohl auch nie erfahren. Es geht uns auch nichts an. Manchmal ist es besser, weniger zu wissen, glaub mir. Nein, auf jeden Fall ist es besser, weniger zu wissen.«


Schließlich schlug Hiroshi vor, jetzt in die Stadt zu fliegen, um mit Obasan Hana essen zu gehen, und Watanabe stimmte zu. Sie verließen das Bürogebäude der Firma und machten sich auf den Weg zu einem schicken Restaurant. Als sie das elegante »Two-to-Tango« betraten, empfing sie eine angenehme Atmosphäre aus gedämpftem Licht und leiser Klaviermusik. Die Tische waren mit weißen Tischdecken gedeckt, Kerzen spendeten warmes Licht. Ein Hauch von exotischen Gewürzen lag in der Luft und aus der offenen Küche drangen köstliche Düfte.

Zu Watanabes Überraschung saß seine Großmutter Obasan Hana bereits an einem der Tische und wartete auf ihn. Ihre betagte Erscheinung war in einen traditionellen Kimono gehüllt, dessen Muster an eine Kirschblüte erinnerte. Freundlich lächelnd begrüßte sie ihren Enkel. »Wie schön, dich zu sehen, mein lieber Takumi«, sagte Obasan Hana und legte liebevoll ihre Hand auf seine.

»Ich freue mich auch, dich hier zu haben, Obasan«, antwortete Watanabe dankbar.


Sie nahmen Platz und ein gut gekleideter Kellner reichte ihnen die Menükarten. Watanabe lächelte. Es war der perfekte Rahmen für dieses wichtige Treffen ihrer Familie. Allerdings musste Watanabe seinem Vater jetzt leider schonend beibringen, dass er keinen Uni essen würde, weil er heute schon einen probiert hätte, und zwar auf dem Tokyo Tower. Das amüsierte Hiroshi. Er scherzte, dass wohl die ganze Welt schon mal einen Seeigel auf dem Tower gegessen hätte, nur kein einziger Einwohner Tokios. Das fand auch Obasan lustig. Sie bestellte wie immer etwas Vegetarisches und Watanabe ein kleineres Gericht mit Huhn, Gemüse und Reis.


Hiroshi begann das Gespräch und lobte Takumi, wobei er immer wieder stolz auf dessen Fähigkeiten als Erfinder hinwies. Dabei hatten sie in der ganzen Zeit zuvor nicht ein einziges Mal über die Watanabe-Express gesprochen.

Dann erzählte Obasan Hana von ihren Ausflügen und berichtete ausführlich, an welchem Wochentag welche Aktivitäten und welche Mahlzeiten in der Seniorenresidenz auf dem Programm stehen würden.

Währenddessen konnte Watanabe nicht aufhören, über seine eigene Zukunft nachzudenken. Die letzten Jahre hatten ihm zwar Ruhm und Anerkennung gebracht, aber innerlich fühlte er sich leer. Er fragte sich, ob er so weitermachen wollte. Sein Vater gab nicht auf. Nach all den Jahren und so vielen schrecklichen Ereignissen. War er genau so? Genauso verbissen und besessen von seiner Arbeit? Besessen von dem Wunsch, immer mehr zu schaffen?


Obasan Hana bemerkte den nachdenklichen Gesichtsausdruck ihres Enkels und sah ihn liebevoll an. »Mein lieber Takumi«, begann sie leise. »Du hast in deinem Leben so viel erreicht - aber sag mir: Bist du wirklich glücklich?«


Watanabe sah sie überrascht an. Er suchte verzweifelt nach einer Antwort. Doch im Grunde seines Herzens wusste er es selbst nicht so genau. War sein Streben nach Erfolg nur eine Flucht vor der Leere seines Herzens?


Die Stimmung am Tisch war angespannt, während alle auf seine Antwort warteten - eine Antwort, die vielleicht seine ganze Familie beeinflussen würde.


Schließlich nickte Watanabe und sagte: »Ich habe keinen Grund zu klagen.«


Während Obasan Hana und Hiroshi ihr Gespräch wieder aufnahmen, schweiften Watanabes Gedanken erneut ab. Er fragte sich, wie es wohl weitergehen würde. Und dann spürte er, dass er seinem Vater ähnlicher war, als er gedacht hatte. Denn auch er konnte sich ein Leben ohne seine Firma nicht vorstellen. Watanabe ohne Watanabe-Express? Nein, das war unvorstellbar.


Nach diesem Treffen brachte Watanabe seine Großmutter zurück in ihre Seniorenresidenz und vergewisserte sich, dass sie wirklich gut untergebracht war. Wären da nicht einige freundliche Pflegerinnen und andere Mitarbeiter auf den Fluren gewesen, hätte man meinen können, Obasan Hana lebte in einer noblen Wohnanlage. Watanabe wurde bewusst, wie viel es seinen Vater kostete, seine Schwiegermutter hier wohnen zu lassen. Da Hiroshi keine eigenen Eltern mehr hatte und er wohl glaubte, dies Hana schuldig zu sein, fand Watanabe das in Ordnung. Aber auch ohne diese Vorgeschichte hätte er genauso gehandelt, denn Obasan Hana verdiente nur das Beste.


Er hoffte, dass sie noch lange lebte und er sie noch mehr als einmal hier besuchen könnte. Wenn Hiroshi nicht gewesen wäre und sie sich hier nicht so wohl gefühlt hätte, hätte er sie am liebsten mit nach Paris genommen. Sie war sein Zuhause. Sie war es mehr als alle Stadtansichten, Gerüche oder Gerichte Tokios. Denn seine Großmutter war voller Geschichten und Kultur und vor allem: voller Weisheit und Liebe.


Fröhlich zeigte sie ihm all ihre Schätze, ihre kleinen Bilder, Familienalben, Bücher und ihren kleinen Schrein, vor dem sie betete. Sie sagte, dass sie nicht viel bräuchte und dass sie eigentlich schon immer so hätte leben wollen, wie sie jetzt lebte. Denn so könnte sie sich auf das Wesentliche konzentrieren: auf ihren Glauben, ihre Erinnerungen und die lieben Menschen um sie herum. Sie sagte: »Ich bete jeden Tag für dich, Takumi. Es ist so schön, dass du immer bei mir bist.«


Watanabe umarmte sie und sagte, dass er vor seiner Abreise noch einmal vorbeikommen würde. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das wirst du nicht. Du hast viel zu tun. Ich möchte, dass du dich darauf konzentrierst.« Sie fügte hinzu: »Hör auf, immer etwas zu versprechen, Takumi. Binde dich nicht durch solche Dinge an andere Menschen, nur um ihnen zu gefallen. Denn das brauchst du nicht. Und es kostet dich unnötig Zeit. Das habe ich in meinem Leben gelernt. Du suchst einen Spiegel und verlierst dich im anderen, anstatt dich selbst zu finden.«


Watanabe, der vor ihr auf einem Sessel Platz genommen hatte, während sie auf dem Bett saß und diese Predigt hielt, wusste nicht, wie ihm geschah. Sie war weise.

Er dachte über ihre Worte nach und antwortete: »Ich suche keinen Spiegel. Aber die anderen sind da, Obasan. Ich suche sie nicht. Aber sie sind da und ich kann sie nicht ignorieren. Ich kann kein Unternehmen führen, ohne an die anderen zu denken: die Kunden, die Geschäftspartner, die Konkurrenz und die Mitarbeiter natürlich. Und es ist auch wichtig zu wissen, wie ich selbst wirke. Das fängt mit einem guten Anzug an, mit teuren Schuhen, einem Phone der besten Marke und vielem mehr. Ich darf mich nicht gehen lassen. Ich muss auf meinen Ruf achten und auf den meiner Firma. Wie kann ich da plötzlich aufhören, in andere hineinzuschauen, um sie richtig einzuschätzen und herauszufinden, was sie von mir denken?«


Sie nickte. »Richtig. Das ist der arbeitende Watanabe. Aber ich habe von Takumi gesprochen. Von dir als Privatperson. Und dieser Takumi hat es verdient, glücklich zu sein. Ich wäre eine schlechte Obasan, wenn ich dich nicht darauf aufmerksam machen würde.«


Er sah sie beeindruckt an. In diesem Moment dachte er, dass sie Recht hatte. Er sprach immer mit »Watanabe« von sich oder zu sich. Und fast alles, was in seinem Kopf vorging, drehte sich um die Firma. Erst seit er in Tokio war und Tokio immer mehr in ihm, entdeckte er diese andere Seite in sich, die Person, die früher alle »Takumi« genannt hatten.


Jetzt sagte Hana: »Ich will nicht unhöflich sein, aber ich glaube, du solltest jetzt gehen und ich sollte schlafen. Es war ein schöner Abend. Ich danke dir dafür! Es werden noch mehr kommen, das weiß ich. Aber du musst jetzt gehen, Takumi. Oder sollte ich sagen Herr Watanabe?«


Sie lächelte schelmisch. Anschließend hatte sie wieder einen so weisen Gesichtsausdruck, dass er sich fragte, ob sie nicht schon wieder mehr wusste als er und vielleicht in die Zukunft gesehen hatte. Und dann dachte er, dass es wirklich besser wäre, nicht immer so viele Versprechungen zu machen. Er wollte raus aus den Köpfen der anderen. Das merkte er sich. ... Zumindest wollte er das, sobald er Takumi war. Und das würde er in Zukunft vielleicht häufiger mal sein. Er stand auf.


»Ich danke dir.« Sie umarmten einander. Obasan Hana strich ihm über die Wange. Und dann geschah etwas Sonderbares. Obwohl sie nichts sagte, so hörte er sie sagen: »Sakura würde wollen, dass du glücklich bist.«


Er sah sie an und fragte: »Hast du eben etwas gesagt?«


»Nein«. Sie lächelte. Nachdem er hinausgegangen war, murmelte Obasan Hana: »Wie gut, dass du immer bei mir bist, Takumi.«

Sie war stolz auf ihre besondere Kraft. Denn keine KI der ganzen Welt könnte jemals so gut Gedanken lesen und so gut laut denken wie Hana Watanabe.

 





geschrieben am 10.02.2024 von Bente Amlandt


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