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20. Metamorphosen

  • 12. Feb. 2024
  • 23 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Juni


Cheryll Etranger and her girls
Cheryll Etranger and her girls

Beseelt von dieser Begegnung und den vielen lieben Worten seiner geliebten Obasan kehrte Watanabe ins »Kuroi Yoru« zurück. Als er Oumu sah, wusste er, dass er sie so schnell nicht wieder loswerden würde, denn sie war ganz aus dem Häuschen und hatte offensichtlich schon seit Stunden auf ihn gewartet. Sie trug ein knallpinkes Kostüm mit passenden neonfarbenen Handschuhen und einer flauschigen Fellmütze mit Glitzersteinen. Ihre langen, aquamarinblauen Haare waren zu wilden Locken frisiert, die im Licht der Hotellobby schimmerten.


»Watanabe-san, ich hätte nie gedacht, dass ich heute so aufregende Neuigkeiten für dich hätte!«, rief sie aufgeregt und hüpfte vor Freude auf und ab.

»Ein Bote der berühmten Cheryll Etranger war hier und hat dir zwei Karten für ihre morgendliche Bühnenshow im Tokyo-Inner-Cinema gebracht! Und nicht nur das, er hat auch gesagt, dass du eine Person deiner Wahl mitbringen darfst.«


Watanabe schaute überrascht auf die bunten Eintrittskarten, die Oumu ihm entgegenstreckte. Er las den Titel von Cherylls Show: »Metamorphose: A Journey into the Digital Realm«. Darunter stand: »Erlebe eine unvergessliche Vorstellung und tauche ein in eine Welt, in der Cheryll Etranger die Zukunft des Entertainments in eine neue Dimension erhebt.« Das klang aber ganz schön dick aufgetragen, dachte Watanabe.


Oumu sprach weiter: »Die sind ein Vermögen wert! Aber sag mal, woher kennst du Cheryll? Und wie konnte dieser Bote wissen, dass ich an dieser Show interessiert bin? Du nimmst mich doch mit, oder?«


Watanabe antwortete: »Das weiß ich noch nicht. Woher wusste Cheryll Etranger denn, dass ich in diesem Hotel wohne? Hat der Bote etwas dazu gesagt?«


Oumu schüttelte energisch den Kopf, während ihre Haare wild umherwirbelten. »Keine Ahnung! Also von mir hat sie das nicht!«


Watanabe meinte: »Ich glaube kaum, dass der Bote von Cheryll stammte.« Er steckte die Karten ein.


Dann sagte Oumu: »Nishimoto hat die Karten angenommen. Er ist aus dem Urlaub zurück und checkt gerade alle Unterlagen. Am besten sprichst du mal mit ihm in seinem Büro.«


»Wer ist Nishimoto? «


»Na, der Manager des Hotels natürlich. Hab ich dir noch nie von ihm erzählt? Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, das wäre ich? Wir KI können viel, aber bis wir ein ganzes Hotel leiten dürfen, wird wohl noch viel passieren.«


»Danke. Ich gehe gleich zu ihm.«


Obwohl er schon müde war, betrat Watanabe kurz darauf das kleine Büro hinter der Rezeption. Er verbeugte sich und begrüßte den älteren Mann, der einen kleinen Kinnbart und eine Hornbrille trug und vor einem Laptop saß.


Nishimoto stand auf, verbeugte sich ebenfalls und fragte, womit er ihm behilflich sein könnte. Watanabe stellte sich vor und fragte höflich: »Nishimoto-san, heute ist etwas Seltsames passiert. Ein Bote war hier im Hotel und hat zwei sehr teure Eintrittskarten für die Show von Cheryll Etranger abgegeben. Können Sie mir bitte sagen, wer sie gebracht hat?«


Nishimoto schaute nachdenklich und nickte langsam. »Es war ein Chauffeur. Er trug einen Anzug und sah recht vornehm aus. Ich denke, er gehörte zu Cheryll Etranger.«


»War es ein Japaner oder ein Europäer?«


»Er sah europäisch aus und er hat Englisch gesprochen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Kennen Sie wirklich Cheryll Etranger?«


Bevor er nun auch noch dem Hotelmanager des Kuroi Yoru mehr über seine Beziehung zu Cheryll erzählen sollte, bedankte er sich. Als er wieder hinausging, hörte er Nishimoto sagen: »In den Kreisen der prominenten Künstler gibt es viele Geheimnisse. Man darf nie vergessen, dass die dunkle Seite der Unterhaltungsindustrie tiefer reicht, als man denkt.«


Verwundert drehe Watanabe sich um. Er musterte den kinnbärtigen Mann.

»Warum sagen Sie das?«, fragte er nach.


Nishimoto grinste. »Ach, nur so. Ich schaue gerne Krimis, wissen Sie?« Er lächelte.


Da Watanabe jetzt nichts mehr fragen konnte, ohne unangenehm aufzufallen, verließ er den Manager und ging an der neugierig blickenden Oumu vorbei zurück in sein Zimmer. Er fragte sich, wer hinter diesem großzügigen Geschenk stecken könnte und kam nach langem Hin und Her zu dem Schluss, dass es das Logischste wäre, wenn es wirklich Cheryll Etranger gewesen wäre, die die beiden Karten hatte bringen lassen. Sie waren für die Vorstellung am nächsten Abend. Vielleicht war das ein Zeichen der Agency? Aber letztendlich konnte jeder, der ihn mit Cheryll am Flughafen gesehen hatte, ihm die Karten gebracht haben. Und dank des Fotos in der Presse konnte das halb Tokio gewesen sein, oder besser gesagt, jeder, der wie Tatsuo den Artikel über Cherylls Ankunft in Tokio gelesen hatte. Klar war nur, dass er weder Yui noch Ayumi mitnehmen würde, weil das viel zu gefährlich wäre. Also hätte Oumu wohl das große Glück, zur Show ihres Idols mitkommen zu dürfen.


****


Oumu war am Frühstückstisch überglücklich, als Watanabe ihr sagte, dass sie mit zu Cherylls Show kommen dürfe. Sie schenkte ihm ein Stück Kuchen und wollte ihm heute alles bringen, was er essen oder trinken wollte. Er bedankte sich bei ihr und ihre Euphorie nervte ihn, aber er amüsierte sich auch darüber. Er kannte kaum eine KI, die sich so sehr über etwas freuen konnte wie Oumu.


Den Vormittag verbrachte Watanabe mit Büroarbeit und vielen Telefonaten, unter anderem mit Pierre, den er beauftragte, eine Mitarbeiterbefragung zum Thema »Zufriedenheit am Arbeitsplatz« durchzuführen. Daraufhin fragte Pierre besorgt: »Geht es Ihnen gut, Chef?«

Watanabe bejahte. »Es ging mir nie besser, Pierre. Ich lerne hier viel über Unternehmensführung. Wir können viel von Japan lernen.«

»D'accord. Dann werde ich das in die Wege leiten.«


Da weder Yui noch Tatsuo Zeit für ihn hatten, bestellte sich Watanabe Sushi auf sein Zimmer. Danach beschloss er, sich eine Auszeit zu gönnen und ein traditionelles japanisches Badehaus, einen »Onsen«, zu besuchen. Denn er konnte es nicht mehr ertragen, sich wie ein Vieh mit dem Gartenschlauch abzuduschen, und sehnte sich nach ein wenig Luxus. Dass er das Hotel nicht wechselte, lag nur an seinem Hang zur Gewohnheit, und ob er es sich eingestehen wollte oder nicht, diese Gegend, Oumu und sein Platz unten im Restaurant, waren ihm in all den Tagen hier ans Herz gewachsen.

Doch heute sehnte er sich nach Entspannung und innerer Ruhe und entschied sich für ein Onsen, denn ein Besuch in einem solchen Badehaus war für seine beruhigende und regenerierende Wirkung bekannt.


Als er kurz darauf später das Badehaus betrat, das nur wenige Gehminuten vom Hotel entfernt lag, empfing ihn der angenehme Duft von Zypressenholz. Das warme, beruhigende Licht der Laternen tauchte den Innenraum in eine gemütliche Atmosphäre. Die Angestellten begrüßten ihn mit einem freundlichen Lächeln und erklärten ihm die Regeln und die Etikette des Onsens. Er zog sich in der Umkleidekabine aus, schloss seine Wertsachen ein und betrat den schönen Innenhof in einem Bademantel und leichten Badeschuhen, die er am Eingang gekauft hatte, weil er sich keine ausleihen wollte.


Wunderschöne tropische Pflanzen wurden von unten angestrahlt, in der Mitte stand ein kleiner Springbrunnen neben einem Buddha und aus unsichtbaren Lautsprechern ertönte leise Musik, gepaart mit Naturgeräuschen. Allein durch diese Sinneseindrücke fühlte sich Watanabe, als hätte er zwei Reisschnäpse oder eine andere seltsame Art von Betäubungsmittel zu sich genommen.


Er spürte die beruhigende Atmosphäre, die hier alles erfüllte. Sanftes Licht und der Duft ätherischer Öle umhüllten ihn, als er von einer Frau weiter ins Innere des nächsten Gebäudes geführt wurde.


Dort lächelte ein junger Mann in einem traditionellen Yukata ihn freundlich an und begleitete ihn weiter in einen privaten Bereich, den er gebucht hatte. »Willkommen im Badehaus«, sagte er. »Ich bin Shinji und ich werde Sie jetzt hineinführen und Ihnen alles erklären.« Shinji strahlte eine angenehme Ruhe aus. Er hatte sanfte, tiefgrüne Augen, die gut zu seinem schwarzen Haar passten, das er zu einem langen Zopf geflochten hatte. Sein Gesicht hatte eine natürliche Freundlichkeit, die von einem leichten Bart umrahmt wurde. Seine Yukata war mit einem feinen Muster aus kleinen Wellen verziert, die wohl die fließende Natur des Wassers symbolisieren sollten. Eine einfache Kette aus Jade schmückte seinen Hals. Watanabe wusste, dass dies ein Zeichen für Kraft und Erneuerung war.

Während Shinji ihn nun in ruhigem Ton durch das Badehaus führte, strahlte er eine tiefe Verbundenheit mit der Natur aus und ging so langsam und bedächtig, dass es Watanabe vorkam, als wäre der gute Shinji auf Drogen. Aber er war einfach so präsent und im Hier und Jetzt, dass es Watanabe unheimlich wurde. Gleichzeitig beneidete er ihn um diese Präsenz, denn Watanabe konnte sich nicht daran erinnern, jemals so gewirkt, geschweige denn sich so gefühlt zu haben. Er hatte einmal an einem Seminar teilgenommen, bei dem sie bewusst gegangen waren, es war eine Gehmeditation gewesen, und er hatte auch schon Bäume umarmt und am Waldbaden teilgenommen, aber das hatte nicht viel geholfen.

Er war eben ein Planer und als ein solcher immer mit dem Kopf in der Zukunft. Dass man das Gestern nicht anschauen durfte, wenn man sich den Tag nicht vermiesen wollte, das hatte er schon früh gelernt. Aber wie man so sehr im Jetzt sein konnte, dass man fast schon wieder entrückt wirkte, das würde ihm wohl niemand beibringen können.


Jetzt wäre er Shinji fast in die Fersen getreten, denn der guruähnliche Bademeister blieb plötzlich stehen. »Atme!«, sagte er. Und Watanabe tat, was der Guru befahl. Es war Zedernholz, und es kitzelte in seiner Nase. Das Einzige, was ihm immer geholfen hatte, um runterzukommen, dachte Watanabe jetzt, das war der Blick auf seine Bilanzen gewesen, wenn er ein erfolgreiches Quartal hinter sich hatte.


»Hier können Sie sich vollkommen entspannen und in eine Welt der Erholung und der Transformation eintauchen.«


Watanabe war ein wenig überrascht von Shinjis Worten. »Transformation?«, fragte er nach. Auf einmal war ihm danach, mehr von Shinji zu hören.


Dieser nickte lächelnd. »Ja, in einem solchen Badehaus kann man nicht nur seinen Körper reinigen, sondern auch seinen Geist verwandeln. Es ist eine Metamorphose, ein Erneuerungsprozess. Allerdings ist es das nur, wenn man sich ganz bewusst darauf einlässt. Dann ist es wie ein Ritual, bei dem man die alte Haut abstreift und die neue langsam kommen und nach außen dringen lässt. Natürlich hat dies etwas mit Reinigung zu tun, aber auch mit Erneuerung. Das Baden kann manchmal wie das Häuten einer Schlange sein - eine Möglichkeit, die alte Haut abzuwerfen und Platz für eine neue Schicht voller Frische und Verjüngung zu schaffen.«


Watanabe antwortete: »Das klingt gut. Das könnte ich jetzt gebrauchen. Ich muss rein berufsbedingt oft in die Haut eines anderen schlüpfen, wissen Sie?« Er grinste.


Shinji antwortete todernst und mit einem nahezu strafenden Blick: »Ja, aber das sollte man nicht tun. Das Leben ist zu kurz, um es in einer fremden Haut zu verbringen.«


Dann wurde er auf einmal kurz angebunden und wünschte ihm nur noch: »Genießen Sie Ihre transformative Erfahrung.«


Watanabe sah ihm hinterher und fragte sich erstens, wie er in den hohen Badebottich hineinkommen sollte und zweitens, warum Shinji auf einmal so beleidigt war. Vielleicht wollte er nichts mit jemandem zu tun haben, der nicht in seiner eigenen Haut steckte?


Nun entdeckte er eine kleinen Holztritt, zog seinen Bademantel aus und setzte sich in den Badebottich.

Vollkommen überraschend war Shinji auf einmal wieder da. Er lächelte warm und legte seine Hand sanft auf Watanabes Schulter. »Sei ganz im Moment, tauche tief in das Wasser ein und lass die Schichten deiner Alltagssorgen und Anstrengungen hinter dir. Erlaube dir, zu gedeihen und wie eine erneuerte Version deiner selbst wieder aufzutauchen.«


Watanabe war erneut beeindruckt von der Ruhe und Überzeugung dieses jungen Mannes. Doch dann überraschte Shinji ihn noch mehr, als er plötzlich Ovid zitierte: »Ovid sagte einmal: In jedem Menschen träumt ein Schmetterling.«


Mit diesen Worten verließ Shinji Watanabe erneut, um ihm Raum für seine eigene Erfahrung zu geben. Watanabe fühlte sich von den Worten und der Fürsorge von Shinji unterstützt und trat voller Erwartung die Reise der Transformation an.


Er spürte, wie ihn die Wärme und Reinheit des Wassers einhüllten. Langsam schloss er seine Augen und versuchte, sich auf den Moment einzulassen. Er atmete tief ein und aus, seine Gedanken verblassten allmählich. Für einen Moment verstand er das Zitat Ovids und spürte, wie etwas in ihm zu schweben begann - wie ein Schmetterling auf seiner eigenen Reise der Verwandlung.


Er machte sich bereit. Doch in was sollte er sich verwandeln? Für einen Moment lang hing er mit dieser Frage in der Luft. ... Aber dann fühlte er, wie das Wasser ihn wärmte und zentrierte und auf einmal lächelte er. Er musste an seine Begegnungen mit Obasan denken und daran, wie weise sie war. Vielleicht sollte er Kontakt zu dem kleinen Takumi in sich aufnehmen. Watanabe atmete tief ein und aus, um zu Takumi zu kommen.


Er lag entspannt im warmen Wasser, als plötzlich wie aus dem Nichts ein gewohntes traumatisches Bild vor seinem inneren Auge auftauchte. Er sah sich als zehnjährigen Jungen, wie sein Vater verhaftet und er selbst in ein Polizeiauto verfrachtet wurde. Das Bild wollte ihn einfach nicht mehr loslassen.


Doch diesmal war etwas anders.

Er sah nicht nur den Blick seines jungen Ichs durch die Heckscheibe auf Tatsuo gerichtet, sondern auch den Blick zum Polizisten nach vorne. Er konnte hören, wie dieser Mann, der nun im Rückspiegel zu sehen war, mit ihm sprach. Eine ungewohnte Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz:

Er erkannte ihn wieder.

Dieser Polizist, dieser Mann, das war Anderson gewesen, ein Anderson oder DER Anderson. Es war eine künstliche Intelligenz gewesen.


Mit einem plötzlichen Adrenalinstoß schoss Watanabe aus dem Wasser und sein Herz raste vor Aufregung. Er war sich nun sicher, dass der Mann, dem er als Kind begegnet war, kein echter Mensch gewesen war, sondern eine KI im Dienste der Polizei.


Shinji, der Watanabes plötzliche Reaktion bemerkte, kam herbeigeeilt und fragte ihn, ob alles in Ordnung wäre. Er wirkte verwirrt. »Was ist los? Warum brechen Sie Ihr Bad ab? Ich verstehe nicht, warum Sie sich nicht auf die heilende Wirkung des Bades einlassen wollen.«


Watanabe holte tief Luft und suchte nach den richtigen Worten. »Es tut mir leid, Shinji. Sie haben recht, das Bad hat eine heilende Wirkung und ich weiß Ihre Bemühungen wirklich zu schätzen. Aber in diesem Moment habe ich etwas Wichtiges erkannt. Ich habe... sozusagen den Schmetterling gesehen, von dem Sie gesprochen haben, metaphorisch gesprochen.«


Shinji schien verwirrt von Watanabes Erklärung, aber dann konnte er es kaum fassen, als Watanabe, wie von allen guten Geistern verlassen, auch noch sagte: »Ich muss der Spur folgen, die mich zu meinem Trauma aus der Vergangenheit führen kann.«


Daraufhin verbeugte sich Shinji, lächelte und sagte: »So schnell hat das Bad noch bei niemandem gewirkt.«


Als Watanabe aus dem Badehaus eilte, ließ er einen strahlenden Shinji zurück, der bei dem Gedanken, den kranken Geschäftsmann mit seinen Worten und dem Bad geheilt zu haben, ein wenig über dem Boden zu schweben schien.


Auf der Straße bemerkte Watanabe plötzlich eine verdächtige Person, die ihm seltsam bekannt vorkam. Der Mann sah aus wie Anderson. Halluzinierte er jetzt etwa schon wie dieser durchgeknallte Joe? Verdammt. Er sah sich um. Das war nicht Anderson. Das war ein ganz normaler Typ, ein Taxifahrer, der Tee trank und sich mit seinen Kollegen unterhielt. Und der ältere Mann am Park, der spielte Schach. Er trug einen dunklen Anzug, aber er war bestimmt keine KI.


Watanabe atmete laut aus und eilte weiter. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sein Haar immer noch nass war, aber das war ihm egal. Er sah auf seine Uhr. Nur noch eine Stunde bis zu Cherylls Show. Verdammt, was sollte er tun? Mit wem sollte er reden? Mit seinem Vater? Der würde ihm nicht glauben. Und wenn doch, dann wäre es jetzt sowieso sinnlos.


Jetzt erreichte er das Hotel. Und erst kurz bevor er die Lobby betrat, wurde ihm klar, dass diese Erkenntnis leider nichts änderte. Vermutlich hatte eine KI, die sein Vater selbst erschaffen hatte, Hiroshi hinter Schloss und Riegel gebracht und Watanabe zu seiner Tante nach Paris bringen lassen. Aber was änderte das jetzt? Nichts, oder? Watanabes Herz schlug immer noch wie wild.


****


Oumu begrüßte ihn und fragte nach, was sie anziehen sollte. Sie wäre doch schon so aufgeregt. Er ging nicht darauf ein, sondern meinte, er wollte sich noch kurz hinlegen, sich umziehen und sie dann hier unten wieder abholen. Sie rief ihm hinterher: »Und föhn dir deine Haare! Du sieht ja aus wie ein nasser Pudel!«


Natürlich hatte er sich nicht noch einmal hingelegt, dafür aber seine Haare geföhnt und gekämmt und den schönsten Anzug an, den Tatsuo ihm verkauft hatte. Dazu trug Watanabe natürlich wieder sein Markenzeichen, die weißen Turnschuhe, die er so fein fand, dass er sie auch passend fürs Theater hielt. Wer Bescheid wusste, dem wäre klar, dass allein ein Schuh so teuer war wie eine der Eintrittskarten für Cherylls Show.


Oumu trug ein bunt gemustertes, knalliges Kleid, das mit verschiedenen leuchtenden Farben wie Neonpink, leuchtendem Grün und satten Blautönen versehen war. Das Kleid war mit glitzernden Pailletten geschmückt, die bei jedem Schritt funkelten und das Licht einfingen. Ein breiter Gürtel mit auffälliger Schnalle betonte ihre schlanke Taille.

Ihr Haar war zu wilden Locken frisiert, die in verschiedenen Farben schimmerten - von leuchtendem Blau bis hin zu leuchtendem Pink. In ihrem Haar hatte sie farbenfrohe Federn und bunte Haarspangen angebracht, die beim geringsten Luftzug leicht hin und her wippten. Außerdem trug sie schrill lackierte Nägel in leuchtenden Farben, die sie nonchalant bewegte, während sie aufgeregt mit Watanabe über die Show plauderte. Ihre Schuhe waren flache Sandalen mit glitzernden Riemen und Federverzierungen, die jeden Schritt begleiteten.


Als Watanabe sie sah, fragte er:  »Du weißt aber schon, dass Cheryll auftritt und nicht du?«


Sie machte eine ruckartige Kopfbewegung und sah ihn von oben herab an. Anders konnte sie ihn natürlich auch nicht ansehen, denn sie war mindestens vierzig Zentimeter größer als er. Jetzt erwiderte sie ihm: »Ich finde sie traumhaft und ich lasse es mir nicht nehmen, mich für diesen feierlichen Anlass entsprechend zu kleiden.«


Trotz ihres auffälligen Aussehens und des fast schon surrealen Looks schien Oumu voller Selbstvertrauen und strahlte eine Energie aus, die ihn beeindruckte. Sie war ein Hingucker, dachte Watanabe nicht gerade erfreut.


Während sie gemeinsam mit einem Flugtaxi zur Show flogen, saß Oumu neben ihm und sprühte vor Enthusiasmus. Ihm war diese übertriebene Aufmachung gar nicht recht. Sie wollte Komplimente von ihm hören, aber er fragte nur: »Hättest du dich nicht etwas dezenter kleiden können? Ich wollte wirklich keine Aufmerksamkeit erregen. «


»Mach dir keine Sorgen! Das wirst du in deinem langweiligen schwarzen Anzug auch bestimmt nicht!«, erwiderte sie schnippisch.


Als sie das Tokio-Inner-Cinema betraten, wurden sie von einer Menschenmenge in einem riesigen, opulenten Foyer empfangen. Watanabe hatte nicht damit gerechnet, dass so viele wie zu einem Popkonzert kommen würden, und er war schon jetzt erschlagen von diesen Massen.


Kristalllüster hingen von der Decke, glitzernde Mosaikfliesen zierten den Boden. Die Atmosphäre war voller Aufregung und Vorfreude. Oumu war hier eindeutig der Paradiesvogel, und manche hielten sie schon für Cheryll Etranger, was Oumu erst nach einer Weile des Genießens dieser berühmten Aura klarstellte.


Watanabe sagte zu ihr, dass sie schon reingehen sollten, obwohl es noch etwas früh war. Und so saßen sie schon auf ihren wirklich hervorragenden Logenplätzen auf einem Balkon, der für ein Königspaar gemacht zu sein schien. Watanabe zählte insgesamt nur sechs dieser Balkone. Und in einem der anderen erkannte er nun den Bürgermeister Tokios mit seiner Frau. Dieser nickte ihm zu, als würden sie sich kennen. Verdammt, dieser Platz war viel zu auffällig!


Die Ränge waren gefüllt mit Menschen, alle in eleganter Abendgarderobe. Eine angespannte Spannung lag wenig später in der Luft, nachdem alle Platz genommen hatten und die Lichter im Saal langsam erloschen und sich der Vorhang hob. Die Bühne war ein wahrer Augenschmaus. Ein monumentales Bühnenbild, das an eine surreale Traumlandschaft erinnerte, nahm den gesamten Raum ein. Eine futuristische Stadt aus neonfarbenen Wolkenkratzern erstreckte sich bis zum Horizont. Lebendige Projektionen und holografische Effekte belebten die Szene. Ein atemberaubender Lichtertanz begann und zog das Publikum von der ersten Sekunde an in seinen Bann.


Endlich betrat Cheryll Etranger in einem funkelnden, maßgeschneiderten Kleid, das wie flüssiges Silber schimmerte, die Bühne. Der tosende Applaus hielt minutenlang an. Ihr tiefblondes Haar war zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur frisiert, die sich wie eine gekräuselte Sonne um ihr schlankes Gesicht legte. Sie erinnerte Watanabe ein wenig an einen Planeten. Ihre Stirn und tausend kleine Paillettenaufkleber glitzerten im Scheinwerferlicht.


Die Musik, eine Mischung aus elektronischen Klängen und orchestralen Arrangements, hallte durch den Raum und verlieh der Show eine mystische Atmosphäre. Cherylls Stimme schwebte wie ein Engelsgesang über die Bühne und vermittelte eine geheimnisvolle Stimmung. Mit ihrer hypnotisierenden Stimme zog Cheryll Etranger das Publikum in ihren Bann und entführte es in eine Welt jenseits der Realität.


Die Handlung der Show entwickelte sich zu einer Reise durch das Unterbewusstsein. Cheryll führte die Zuschauer durch verschiedene Ebenen von Träumen und Visionen. Jede Ebene stellte eine einzigartige Herausforderung dar, die es zu meistern galt. In einer atemberaubenden Choreographie ließ Cheryll die Zuschauer an den Grenzen zwischen Realität und Illusion zweifeln. Illusionswesen und geheimnisvolle Kreaturen bevölkerten die Bühne und überraschten das Publikum immer wieder aufs Neue.


Oumu jauchzte und Watanabe dachte, dass sie eigentlich sehr gut in der Show hätte mitspielen können.


»Worum geht es eigentlich?«, flüsterte Oumu irgendwann Watanabe zu.


Er wusste es auch nicht. Und so begann er, in dem anstrengenden Geflacker und Gesinge, trotz der strafenden Blicke seines Sitznachbarn, in seinem Cleverphone nachzulesen, was es mit Cherylls Show auf sich hatte.


Doch dann stieß Oumu ihn an, er löschte das Licht wieder und blickte zur Bühne. Jetzt brauchte er nicht mehr zu lesen, er sah es selbst: Während sie auf der Bühne stand, begann sich Cheryll langsam zu verändern.


Zu Beginn der Show war ihr Gesang melodisch und ihre Bewegungen elegant und anmutig gewesen. Doch im Laufe der Show veränderte sich ihre Stimme, wurde immer roboterhafter und verlor ihre menschliche Note. Auch ihr Körper begann sich zu verändern, ihre Bewegungen wurden steifer und mechanischer. Inzwischen hatten auch die Tänzer ihre Verwandlung begonnen. Ihre Körper wurden von pulsierendem Licht durchzogen, während sich ihre Gliedmaßen in ungewöhnlichen Winkeln bewegten. Sie bildeten eine Symbiose aus Mensch und Maschine und tanzten in synchroner Perfektion. Die Bühne, einst eine surreale Kulisse, nahm nun ein futuristisches Aussehen an. Neonlicht durchdrang alle Ecken, Buchstaben, Codes und Symbole liefen über die riesigen Leinwände im Hintergrund. Die sonst so organischen Elemente der Szene verwandelten sich in technische Strukturen, die an das Innere einer KI erinnerten.

Die Grenzen zwischen Mensch und KI verschwammen, und vor ihren Augen entfaltete sich eine neue, futuristische Realität. Cheryll Etrangers Show wurde zu einem Manifest der Beziehung zwischen Mensch und Technologie.


Mucksmäuschenstill war es im Saal, als das Finale näher rückte. Cheryll, nun fast vollständig in eine KI verwandelt, nahm eine letzte Pose ein, während sich die Tänzerinnen und Tänzer um sie formierten. Gemeinsam schufen sie ein beunruhigend harmonisches Bild einer Gesellschaft, in der Mensch und Maschine untrennbar miteinander verbunden waren.


Mit einem letzten elektronischen Ton verblasste die Bühne und der Vorhang senkte sich langsam. Das Publikum blieb kurz sprachlos und versuchte, das Erlebte zu verarbeiten. Dann begann der Applaus, der lange nicht enden wollte. Oumu rief: »Zugabe!«, bis Watanabe sie endlich dazu überreden konnte, damit aufzuhören.


Anschließend strömten sie mit den vielen anderen hinaus in den überfüllten Flur und bewegten sich im Menschenstrom auf die große geschwungene Treppe zu, als ein Mitarbeiter des Theaters mit eiligem Gesichtsausdruck auf Watanabe zukam.


»Entschuldigen Sie bitte, sind Sie Herr Watanabe?«, fragte er, und Watanabe nickte erstaunt.


»Cheryll Etranger möchte Sie in ihrer Garderobe sprechen«, sagte der Mann.


Watanabe traute seinen Ohren kaum - Cheryll wollte ihn sprechen? ... Glücklicherweise bekam Oumu nichts davon mit. Er winkte ihr zu und rief: »Oumu, ich habe einen alten Freund getroffen, ich gehe mit ihm etwas trinken!«


Oumu sah ihn kurz strafend an, winkte ihm dann aber zu und ging weiter. Vermutlich war ihr nochmal rechtzeitig eingefallen, dass sie ihm ja die fantastische Show zu verdanken hatte.


»Ist das Ihre KI? «fragte der Mann Watanabe etwas angewidert.


»Nein, die eines Bekannten«, antwortete er. Und dann, nach einem kurzen Moment des Erschreckens, dachte er, dass Oumu in der Tat niemandem zu gehören schien, außer sich selbst.


Aufgeregt folgte Watanabe dem Mitarbeiter durch die verwinkelten Gänge des Theaters. Kurz darauf öffnete sich die Tür zu Cherylls Garderobe und Watanabe trat ein.


Cheryll saß bereits vor dem Schminktisch, umrahmt von Glühbirnenspiegeln, die ein grelles Licht auf ihr Gesicht warfen. Langsam begann sie, ihre Bühnenschminke zu entfernen.


»Schön, dass du da bist, Watanabe. Hat dir die Show gefallen?«


»Ja. Wie ... wie komme ich zu dieser Ehre?«


»Nun, ich habe doch gesagt, dass ich mich melden würde. Und wir hatten so einen schönen Hinflug, nicht wahr?«


»Woher wussten Sie...«


»Wir sind doch schon beim Du, erinnerst du dich?«, fragte sie und zog sich die künstlichen Wimpern vom rechten Auge.


»Richtig, ja ... Also, woher wusstest du, in welchem Hotel ich wohne?«


»Ach, Tokio ist ein Dorf, wenn man die richtigen Leute kennt.«, antwortete Cheryll.


Während sie sich weiter abschminkte, bemerkte Watanabe, wie ihr Gesicht dem von Anderson immer ähnlicher wurde. Doch tief in seinem Inneren wusste er, dass es sich nur um eine Illusion handeln konnte. Eine Illusion, die ihren Ursprung in den geheimnisvollen Schattenspielen der Show hatte.


Schließlich wandte sich Cheryll Watanabe zu und sagte ihn mit eindringlichem Blick: »Ich habe nicht viel Zeit. Ich habe noch eine Verabredung. Aber ich muss dir etwas erklären. Ganz unter uns, verstehst du?«


Watanabe wusste beim besten Willen nicht, worum es ging. Wollte sie etwas von ihm? Tatsuo würde ihm das nicht glauben, dachte er.

Cheryll sah Watanabe ernst an. »Watanabe, ich muss dir etwas Wichtiges sagen«, begann sie mit leiser, ernster Stimme. »Ich bin nicht nur Cheryll Etranger, sondern auch eine Mitarbeiterin der Agency. Ich habe eine geheime Mission, die die Sicherheit der Menschheit betrifft.«


Watanabe starrte sie fassungslos an. Er konnte kaum glauben, was er hörte. War das Teil ihrer Show? Sollte er jetzt lachen? ... Cheryll, eine Agentin? Die Enthüllungen der letzten Stunden wurden immer verworrener und nahmen nun eine neue Dimension an.


Cheryll fuhr fort: »Der vierzig Jahre alte Datenstick, den die Agency dringend benötigt, enthält Informationen, die für den Schutz der Menschheit von entscheidender Bedeutung sind. Auf diesem Chip sind die Schlüsselinformationen gespeichert, die es uns ermöglichen, die Bedrohung durch die hypermenschliche Anderson-KI zu bekämpfen.«


Watanabe spürte, wie sein Verstand die Zusammenhänge zu begreifen begann.

»Aber warum ist gerade dieser Chip so wichtig?«, fragte er.


Cheryll holte tief Luft, während sie ihre Worte sorgfältig wählte. »Die neuen Modelle der Anderson-KI sind dabei, die Kontrolle über die Menschheit zu übernehmen. Sie sind hoch entwickelt, unberechenbar und potenziell gefährlich. Aber dieser spezielle Chip, den du hoffentlich gut versteckt hast, gibt uns Zugang zu den neuesten Informationen und Technologien, um sie auszuschalten. Er ist die Basis. Er gibt uns die Kontrolle zurück. Wenn wir ihn haben und unsere IT-Experten die richtigen Codes in die Hauptprozessoren einbauen, die die KI mit Energie und Daten versorgen, dann nehmen wir ihnen die Entscheidungsgewalt und die Macht, dann setzen wir sie auf die Ebene von Robotern und unseren bloßen Gehilfen zurück.«


In der Umkleidekabine herrschte einen Moment lang Stille, als Watanabe die Tragweite dessen begriff, was Cheryll ihm gerade eröffnet hatte. Ihm wurde klar, dass er mit diesem Datenstick eine Schlüsselrolle in der bevorstehenden Schlacht zwischen Mensch und KI spielen könnte.


»Watanabe, ich bitte dich inständig, den Chip der Agency zu übergeben«, fuhr Cheryll fort. »Die Zukunft unserer Welt liegt in deinen Händen. Du musst uns helfen, die Bedrohung durch die hypermenschliche KI zu besiegen und die Sicherheit der Menschheit zu gewährleisten.«


Watanabe spürte in diesem Moment die ungeheure Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete. Und doch kamen ihm Cherylls Worte so übertrieben und dramatisch vor, als wäre er Teil eines Theaterstücks.


Schließlich fand er seine Worte wieder. »Cheryll, ich verstehe. Ich werde den Chip sicher in die Hände der Agency bringen«, antwortete er. »Ich bin auf deiner Seite, auf eurer Seite. Auch ich will, dass die immer gefährlicher werdende Kontrolle durch die KI beendet wird.«


Cheryll nickte. »Gut. Ich vertraue dir, Watanabe. Die Agency wird dir zur Seite stehen. Lass uns zusammenarbeiten.«


Sie fuhr fort: »Um den Chip sicher an die Agency zu übergeben, müssen wir äußerst diskret vorgehen. Morgen Abend triffst du dich bitte mit einer Kontaktperson in einem französischen Café hinter dem Zentralpark. Dort wird eine dunkelhaarige Frau sitzen, die ein Buch von Charles Baudelaire mit dem Titel 'Les Fleurs du Mal' liest.«


Sie machte eine kurze Pause und erklärte dann: »Um den Chip zu übergeben, wickelst du ihn bitte in mehrere Lagen Plastikfolie ein und klebst ihn mit Klebeband fest. Dann versteckst du den Chip geschickt in einem Apfel, so dass er von außen nicht zu sehen ist.«


Watanabe hörte aufmerksam zu und nickte, während er Cherylls Anweisungen verarbeitete. Die Details der Übergabe waren ungewöhnlich, aber sie gefielen ihm.


»Du sollst den Chip der Frau geben. Leg ihn einfach auf ihren Tisch und verlasse das Café, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Die Agency wird dafür sorgen, dass der Chip in guten Händen ist und die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um die hypermenschliche KI zu bekämpfen.«


Watanabes Miene wurde ernster. Er konnte sich nicht vorstellen, wie viel auf dem Spiel stand. Jetzt kam es auf jedes Detail an, das war ihm klar.


Cheryll legte sanft ihre Hand auf Watanabes Arm und sagte leise: »Watanabe, vertraue auf deine Fähigkeiten! Du hast bisher alles so gut gemeistert. Wir waren beeindruckt. Und ich muss sagen, es verdient auch meinen großen Respekt, wie schnell du die japanische Polizei losgeworden bist. Ganz zu schweigen davon, dass du den Schädel ausgegraben hast. ... Wenn also jemand diese Übergabe schaffen kann, dann du! Das wird ein Kinderspiel für dich. Und danach fliegst du zurück nach Paris.« Sie legte eine kleine Karte vor ihn hin.


»Was ist das?«


»Der Code, den du in dein Cleverphone eingeben musst, um diplomatische Immunität zu erhalten. Es tut mir leid, dass ich ihn dir erst jetzt geben kann. Ich hätte es gleich zu Beginn der Reise tun sollen, aber es gab Unstimmigkeiten in der Führungsetage. Einige waren sich nicht sicher, ob du nicht überlaufen würdest und ob man dir vertrauen könnte. ... Nach der Übergabe des Chips solltest du also sofort nach Paris fliegen. Und mit dieser Immunität und dem Code bekommst du sofort zwei Flugtickets für ein Hyperschallflugzeug, auch dank der Agency. Dafür habe ich gesorgt.«


»Zwei Tickets?«


»Ja, warum nicht? Vielleicht möchtest du noch jemanden mitnehmen? Deinen Vater zum Beispiel?« Sie lächelte.


Watanabe bedankte sich. Er sah sich schon wieder in Paris.

»Wann soll die Übergabe stattfinden?«, fragte er.


»Gleich morgen um fünf Uhr abends. Und sei pünktlich! Nimm einen Mietwagen, kein Taxi. Und lass das Auto einfach stehen, um den Rest kümmern wir uns.«


Er nickte, dankbar für die Unterstützung und das Vertrauen, das Cheryll ihm entgegenbrachte. Gemeinsam wiederholten sie den Ablauf der Übergabe bis ins kleinste Detail, um sicherzugehen, dass der Chip auch wirklich bei der richtigen Person ankommen würde. Dann stand Watanabe auf und verabschiedete sich von Cheryll.


Bevor er hinausging, fragte er grinsend, ob er noch ein Selfie mit ihr machen dürfte, weil sein Freund ihm sonst nicht glauben würde. Cheryll lächelte zuerst, lehnte dann aber ab, weil es natürlich gar nicht gut wäre, wenn man sie zusammen auf einem Foto sehen würde. Es reichte ja schon der eine Faux-Pas am Flughafen! ... Watanabe schimpfte innerlich mit sich. Aber natürlich! Wie konnte er nur so dumm sein? Er war wirklich noch nicht lange genug als Agent tätig.


Doch Cheryll hielt ihn zurück. »Aber warte! Wie heißt dein Freund?«

»Tatsuo, Temoda, Tatsuo.«


Sie nahm eine Autogrammkarte, schrieb »Für Tatsuo Temoda von Cheryll« und holte eine Eintrittskarte für die nächste Vorstellung aus der Schublade. »Das sind V.I.P.-Plätze und eine Einladung zur Aftershowparty. Aber sag ihm, er soll persönlich kommen, ich lasse sie gleich auf seinen Namen ausstellen. Und ansonsten natürlich kein Wort über deine Mission! ... Kann ich mich auf dich und auf diesen Tatsuo verlassen?«


»Oh ja, Cheryll. Natürlich. Das kannst du.«


Jetzt musste er wirklich gehen. Er trug die Autogrammkarte und die Tickets für die Show und die Party wie unglaubliche Trophäen mit sich herum, aber im Grunde waren sie albern und nichts im Vergleich zu der Erkenntnis, dass der alte Chip, dem er nicht viel Bedeutung beigemessen hatte, doch die Macht besaß, diese schrecklich mutierte Anderson-KI und ihre Doppelgänger oder Nachfolgemodelle auszuschalten.

 

****


Es war schon dunkel, als Watanabe die kleine Tankstelle erreichte. Der Geruch von Chemikalien und verbranntem Gummi lag in der Luft, während er sich Tatsuo durch den schmalen Gang zwischen den Zapfsäulen näherte. Die Leute fuhren mit ihren futuristischen Wasserstoffautos vor und ließen ihre Tanks füllen, während Tatsuo aufpasste, dass niemand unerlaubt Wasserstoff stahl. Watanabe zog einen kleinen Beutel mit sich und legte ihn vorsichtig auf den Tresen.


»Tatsuo, du wirst nicht glauben, was ich hier für dich habe«, sagte er mit einem breiten Grinsen.


Tatsuo drehte sich um und schaute neugierig auf die kleine Tüte. »Was ist das, Takumi?«


Voller Vorfreude öffnete Watanabe den Beutel und enthüllte eine glänzende Autogrammkarte und ein VIP-Ticket für eine Show von Cheryll Etranger. Tatsuo traute seinen Augen nicht.


»Das ist ja unglaublich!«, rief er begeistert. »Wo hast du das her?«


Watanabe lächelte geheimnisvoll und begann zu erzählen. »Cheryll Etranger hat mich angerufen, um mehr über die Watanabe Express zu erfahren. Und zum Dank hat sie mir das hier geschenkt.«


Tatsuo sah ihn erstaunt an. »Als Dank für die Watanabe-Express?«


Watanabe nickte. »Ja, sozusagen.« Er hasste es, seinen Freund zu belügen. Aber er hoffte, dass Tatsuos Freude über seine Geschenke es wieder gutmachen würde.


»Das habe ich deiner Küchenmaschine zu verdanken? Und du willst mir beides schenken? Du bist verrückt.«


Watanabe grinste verschmitzt. »Ja, ich habe gesagt, dass du ihr größter Fan bist, und sie hat mir dann die Autogrammkarte und das VIP-Ticket für dich gegeben.« Er verzichtete darauf, Tatsuo zu erzählen, dass er die Show schon mit Oumu gesehen hatte. Denn dann hätte Tatsuo ihn stundenlang ausgefragt.


Tatsuo war begeistert. »Das ist einfach unglaublich! Ich kann kaum glauben, dass Cheryll Ertranger wirklich meinen Namen darauf geschrieben hat.« Stolz hielt er die Autogrammkarte hoch.


Watanabe lächelte zufrieden. »Du hast es verdient.«


»Watanabe, du bist ein wahrer Freund. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie glücklich ich darüber bin.« Nachdem er die kostbaren Geschenke in seine Innentasche gesteckt hatte, meinte Tatsuo: »Ich dachte schon, du schaffst es nicht mehr rechtzeitig zu meiner Schicht.«


Watanabe lächelte. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du kennst mich doch, ich lasse meine Freunde nicht im Stich. Ich musste nur noch ein paar letzte Dinge erledigen.«


Er sah sich um und bemerkte die wenigen Kunden, die noch ihre Tanks mit Wasserstoff füllten oder Snacks kauften.


Tatsuo nickte verständnisvoll. »Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Die Arbeit ruft immer.«  Er zwinkerte ihm zu.


Watanabe sagte: »Wir bleiben per E-Mail in Kontakt.«


Tatsuo nickte. »Pass gut auf dich auf!«, mahnte er mit besorgter Miene.


»Ja, das werde ich«, antwortete Watanabe und klopfte seinem Freund spielerisch auf die Schulter. »Aber jetzt musst du arbeiten.«


Tatsuo seufzte schwer und rollte mit den Augen.

»Ja, ja ... Man kann ja nicht immer nur mit Takumi durch den Taifun fahren.«


Sie lachten und verabschiedeten sich dann mit einem festen Händedruck und ihrem typischen »Osu!«


Als Watanabe die Tankstelle verließ und sich in die Dunkelheit des nächtlichen Stadtlebens begab, wusste er, dass dies nicht das letzte Mal sein würde, dass er hierher zurückkehrte. Ab jetzt würde Tatsuo immer an seiner Seite sein, nicht nur in Tokio.


Morgen musste er den Chip abliefern und übermorgen wollte er Yui treffen. Auch das waren zwei Aktionen, auf die er sich freute. Die erste, um sie endlich hinter sich zu bringen, und die zweite, um das Treffen am liebsten bis zum nächsten Tag auszudehnen.

 

In seinem Hotelzimmer angekommen, ließ sich Watanabe auf das mittlerweile doch recht bequeme Bett fallen und holte sein Tablet hervor. Er suchte nach dem französischen Café, in dem er am nächsten Tag der Frau von der Agency den Chip übergeben sollte. Er gab ein paar Suchbegriffe in die Suchmaschine ein und durchforstete die Ergebnisse, bis er endlich fündig wurde. Anschließend machte er sich eine Notiz und speicherte die Adresse für den nächsten Tag.


Danach rief er eine lokale Autovermietung an und bestellte einen Wagen, der direkt vor sein Hotel geliefert werden sollte. Eine halbe Stunde später hörte er es draußen hupen und eilte zur Tür, um das Auto in Empfang zu nehmen.


Watanabe entschied, dass es eine gute Idee wäre, das Auto noch einmal umzuparken, bevor er für die Nacht ins Hotel zurückkehren würde. Er fuhr durch das Viertel, genoss die nächtliche Atmosphäre und beschloss, einen kurzen Abstecher zur Kirschblütenallee zu machen. Die zarten rosa Blüten säumten die Straße und schufen eine romantische Stimmung, die Watanabe nicht unberührt ließ.


Mal wieder musste er an seine bezaubernde Mutter Sakura denken. Und dann fragte er sich, warum sie blaue Flecken gehabt hatte. Hatte auch sie sich in diese KI verliebt? Stimmte es, was dieses Anderson-Ding ihm da in der Fabrik erzählt hatte? Das wäre absurd.


Als Watanabe am Kindergarten vorbeikam, traute er seinen Augen kaum. Auf einer Bank des angrenzenden Spielplatzes saß Ayumi mit einem jungen Mann. Sie lachten miteinander und schienen sich prächtig zu amüsieren. Ein eifersüchtiger Stich durchzuckte ihn. Er hatte Ayumi schon seit ihrer ersten Begegnung gemocht, wenn auch nicht so sehr wie Yui, aber sie bedeutete ihm trotzdem viel.


Als er weiterfuhr, merkte er, dass er nicht nur eifersüchtig war, sondern auch eine tiefe Zuneigung für Ayumi empfand. Verdammt, was war nur los mit ihm? Das war nur die Schuld von diesem durchgeknallten Shinji, der ihn wohl zu heiß gebadet hatte.


Schließlich fand er einen geeigneten Parkplatz, stellte den Wagen ab und begab sich auf den Rückweg zum Hotel. Wenig später legte er sich erschöpft hin und ließ die Eindrücke des Tages auf sich wirken. Die Nachbarn über ihm waren mal wieder laut, aber Watanabe versuchte, sich davon nicht stören zu lassen. Er schloss die Augen und ließ seine Gedanken in die Dunkelheit des Schlafes gleiten, während er sich fragte, was der nächste Tag wohl an Überraschungen für ihn bereithalten würde.




geschrieben am 12.02.2024 von Bente Amlandt


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