18. S.O.S. - Save Our Souls
- 9. Feb. 2024
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juni

Am nächsten Abend trafen sich Watanabe, Yui und Tatsuo in dem kleinen, überfüllten Schnellimbiss. Watanabe fühlte innerlich eine gewisse Enttäuschung, denn der Ort war weder besonders romantisch, noch bot er eine ruhige Atmosphäre für gute Gespräche. Dennoch versuchte er, die Situation zu akzeptieren.
Yui war sichtlich mitgenommen. Man sah ihr an, dass sie viel geweint hatte und die Trauer um ihren Vater tief saß. Sie bestellten an der Theke gebratenes Essen, viel Frittiertes und setzten sich an einen freien Tisch.
Obwohl sie schon so viele Jahre ohne Vater gewesen war, war es doch etwas anderes zu wissen, dass er tot war, dachte Watanabe. Er selbst hatte seinen Vater sein halbes Leben lang so behandelt, als wäre er tot, und jetzt, da er ihn mit seinem Brief hierhergerufen hatte, wollte er ihn endlich treffen und kennenlernen, aber zu mehr als der flüchtigen Begegnung auf der Polizeiwache war es nicht gekommen. Gut möglich, dass man ihn eingesperrt hatte. Er hatte doch schon so viele Jahre im Gefängnis verbracht. Watanabe war immer noch genervt von dem Verhör, das er hatte über sich ergehen lassen müssen, und wollte die Polizeistation meiden, aber er nahm sich vor, Hiroshi zu helfen und ihm einen Anwalt zu schicken, falls sein Vater nicht schon alles in die Wege geleitet hatte. Hiroshi sollte ihm endlich sagen, was Anderson mit ihm gemacht hatte und wie es nun mit der Firma weitergehen sollte. Produzierte er weiter KI? Fragen über Fragen!
Während Tatsuo das Essen holte und Watanabe bei Yui blieb, um sie zu trösten, zog Yui ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. Dabei fiel auf einmal ein kleines Papierschiffchen heraus. Erschrocken hob Watanabe es auf und fragte Yui, woher sie das Schiffchen hätte.
Sie zögerte einen Moment, dann lächelte sie ein wenig verlegen und antwortete: »Ach, das! Das hat Tatsuo mir geschenkt.«
Watanabe konnte seine Überraschung nicht verbergen und war innerlich entsetzt über diese Geste seines Freundes. Sein Blick fiel finster auf Tatsuo, der mit Essen und einem fröhlichen Spruch zurückkehrte.
Die Stimmung war angespannt, als Yui die Geschichte des kleinen Schiffes erzählte, die Watanabe nur allzu gut kannte. Tatsuo blickte verlegen zu Boden, während Watanabe seinen Unmut kaum verbergen konnte. Doch bevor weitere Worte gewechselt werden konnten, verabschiedete sich Yui kurz, um auf die Toilette zu gehen.
Watanabe nutzte die Gelegenheit, um Tatsuo zur Rede zu stellen. »Was fällt dir ein, Yui ein solches Geschenk zu machen? Du kennst doch unsere Geschichte und meine Gefühle für sie. Ich wollte ihr mein Schiffchen geben und stattdessen schenkst du ihr nun eins? Hättest du dir nicht wenigstens etwas anderes einfallen lassen können?«
Tatsuo entschuldigte sich bei Watanabe. »Es tut mir leid. Aber du wirst bald nach Paris zurückfliegen und ich bleibe hier. Ich möchte mich gut um Yui kümmern und sie unterstützen, wenn sie es zulässt.«
Bevor Tatsuo noch mehr über seine eigenen Gefühle für Yui sagen konnte, kam sie zurück an den Tisch und unterbrach das Gespräch. Watanabe versuchte, seine Enttäuschung in diesem Moment zu unterdrücken und sich auf das gemeinsame Essen zu konzentrieren.
Die restliche Zeit im Schnellimbiss verlief in einem Spannungsfeld, in dem Yui und Tatsuo versuchten, das Gespräch leicht und locker zu halten. Doch Watanabe konnte seine Unzufriedenheit nicht ganz verbergen und war sich bewusst, dass zwischen ihm, Yui und Tatsuo noch vieles zu klären war.
Yuis Stimme schwankte leicht, als sie auf einmal sagte: »Takumi, ich... Die Polizei hat mir gesagt, dass sie deine Fingerabdrücke auf dem Schädel meines Vaters gefunden haben. Ich kann das nicht glauben. Was hat das zu bedeuten? Warum sollten deine Fingerabdrücke darauf sein?«
»Ich ... Ich weiß es nicht, Yui«, stammelte er, während sich Panik in seiner Brust ausbreitete. »Ich schwöre dir, ich werde alles tun, um herauszufinden, was passiert ist. Jeder kann meine Fingerabdrücke einfach darauf geklebt haben, um mir etwas anzuhängen.«
Sie nickte. »Ja, nur warum macht jemand so etwas?«
»Um mich zu ruinieren vielleicht? Es gibt überall böse und neidische Menschen«, erklärte Watanabe.
» Ja, die gibt es wohl«, erwiderte Yui nachdenklich.
Jetzt war es Tatsuo, der ihm einen grimmigen Blick zuwarf, weil Watanabe so schamlos die liebe Yui belog.
Nachdem sie den Schnellimbiss verlassen hatten, schlug Yui vor, in eine Karaoke-Bar zu gehen, um den Abend mit etwas mehr Unterhaltung fortzusetzen. Tatsuo und Watanabe waren einverstanden und folgten ihr zu einer nahe gelegenen Karaoke-Bar.
In der Bar suchten sie sich einen Tisch und bestellten Getränke. Die Stimmung war ausgelassen und lebhaft. Yui motivierte ihre Begleiter, sich ans Mikrofon zu wagen und den anderen Gästen ihr Gesangstalent zu zeigen. Yui suchte sich ein Lied aus, das »S.O.S. – Save Our Souls« hieß und von einer hier recht unbekannten englischen Sängerin (namens Bente Amlandt) stammte. Sie bat Tatsuo und Watanabe darum, immer in den Refrain mit einzustimmen, der lautete:
SOS, save our souls,
We need a light to guide us home,
Through the struggles and the pain,
Together we'll rise, we'll break these chains.
Danach war Tatsuo an der Reihe. Er entschied sich für ein japanisches Liebeslied.
Als die Musik begann, sang er leidenschaftlich und schaute Yui dabei zum großen Ärger von Watanabe tief in die Augen. Tatsuos Darbietung klang schief, aber sie war voller Gefühl und rührte zumindest Yui.
Nach Tatsuos Auftritt war Watanabe dran. Er überlegte kurz und entschied sich dann spontan für einen uralten französischen Chanson von Edith Piaf. Was sonst sollte ein Mann singen, der mitten im Herzen von Paris wohnte?
Also sang er aus Leibeskräften auf Französisch, dass er nichts bereute… Als die Musik einsetzte und er zu singen begann, ahnte er nicht, wie wunderbar seine Stimme in der Bar klang.
Non, rien de rien
Non, je ne regrette rien
Ni le bien qu'on m'a fait
Ni le mal
Tout ça m'est bien égal
Non, rien de rien
Non, je ne regrette rien
C'est payé, balayé, oublié
Je me fous du passé
Avec mes souvenirs
J'ai allumé le feu
Mes chagrins, mes plaisirs
Je n'ai plus besoin d'eux
Balayé les amours
Avec leurs trémolos
Balayé pour toujours
Je repars à zéro
Non, rien de rien
Non, je ne regrette rien
Ni le bien qu'on m'a fait
Ni le mal
Tout ça m'est bien égal
Non, rien de rien
Non, je ne regrette rien
Car ma vie
Car mes joies
Aujourd'hui
Ça commence avec toi *
Songwriter: Charles Dumont / Michel Vaucaire / Songtext von Non, je ne regrette rien © Peermusic Publishing, Semi, Warner Chappell Music, Inc
Plötzlich ertönte stürmischer Beifall. Watanabe lächelte erstaunt und nahm den Applaus entgegen, während Yui und Tatsuo stolz auf ihn waren. Er hoffte, dass Yui genug Französisch beherrschte, um zu verstehen, dass er sie mit der letzten Zeile des Liedes gemeint hatte. Heute sollte sein Leben mit ihr neu beginnen. Was auch immer gestern gewesen war, er würde mit seinen Erinnerungen ein Feuer anzünden, um seine Sorgen zu verbrennen, sie wegzufegen und neu anzufangen. Nicht ganz bei Null, aber was ihre Beziehung betraf, war es auf jeden Fall ein Neuanfang. Nicht als Nachbarn oder Freunde, sondern als Liebende.
Mehr als glühende Blicke konnte er ihr jetzt nicht zuwerfen, schließlich wollte er vor Tatsuo nicht in einen Liebesschwur an Yui ausbrechen. Aber Tatsuo befeuerte alles. Watanabe zeigte bereits mehr Emotionen als sonst.
Die Stimmung in der Karaoke-Bar war euphorisch und die drei Freunde genossen den Abend in vollen Zügen. Sie sangen noch mehr Lieder zusammen, lachten und hatten plötzlich viel Spaß miteinander.
Kurz vor Mitternacht wurde Yui von einem attraktiven Mann angesprochen, der sowohl exotisch als auch europäisch aussah. Er hieß Alexej und war sehr charmant. Er hatte von einer bevorstehenden Party eines berühmten japanischen Schauspielers namens Kenji Matsuda gehört und lud Yui und ihre Freunde ein, daran teilzunehmen.
Yui zögerte einen Moment und sah ihre beiden Freunde an. Tatsuo, der ein großer Fan des Schauspielers war und seine Filme liebte, war sofort von der Idee begeistert. Er konnte sein Glück kaum fassen und konnte es kaum erwarten, den berühmten Kenji Matsuda persönlich zu treffen. Watanabe hingegen blieb skeptisch, beschloss aber, bei Yui zu bleiben, egal, wie sie sich entscheiden würde.
Schließlich willigte Yui ein und sie stiegen zusammen mit Alexej in ein Taxi. Die Fahrt führte sie durch die Straßen Tokios, vorbei an eleganten Gebäuden und neonbeleuchteten Straßen.
Wenig später landeten sie in einem Nobelviertel der Stadt, in dem sich das Hochhaus mit der Dachterrasse für die Party befand. Sie stiegen aus dem Taxi und standen vor einem beeindruckenden Hochhauskomplex. Alexej führte sie zur Liftlobby und zeigte ihnen seine Einladungen für die exklusive Party. Der Aufzug brachte sie auf die Dachterrasse, von wo aus sie einen atemberaubenden Blick über die leuchtende Metropole hatten.
Die Party war schon in vollem Gange. Elegant gekleidete Menschen amüsierten sich in ausgelassener Stimmung. Die Dachterrasse war geschmackvoll dekoriert und die Atmosphäre erfüllt von exotischen Klängen und einem Hauch von Glamour. Tatsuo konnte sein Glück kaum fassen und stürzte sich voller Begeisterung ins Partyleben.
Yui genoss es, auszugehen, aber sie blieb immer wieder stehen und sah traurig aus. Wahrscheinlich wusste sie nicht, ob es in Ordnung war, mit Freunden auszugehen, wenn man gerade erfahren hatte, dass der eigene Vater einen nicht etwa verlassen hatte, weil er vor vierzig Jahren weggezogen war, sondern weil er ermordet worden war.
Sie beobachtete, wie Tatsuo sich mit anderen Partygästen aufgeregt über den Schauspieler Kenji Matsuda unterhielt.
Watanabe hingegen stand etwas abseits und ließ die luxuriöse Atmosphäre auf sich wirken. Er blieb gedankenverloren auf der Dachterrasse stehen und genoss den Blick über Tokio, als plötzlich jemand neben ihn trat. Ohne genau hinzusehen, hielt er die Person zunächst für Tatsuo und begann zu sprechen. Doch als er genauer hinsah, erkannte er, dass es Ayumi war.
Sie trug ein elegantes, traditionelles Kimono-ähnliches Kleid, das ihre zierliche Gestalt umschmeichelte. Die Farben des Kleides, ein lebhaftes Rot und ein dezentes Muster, unterstrichen die Anmut ihrer Erscheinung. Ihre Augen waren von einem tiefen Braun, das ihm nun wunderschön vorkam.
Watanabe näherte sich ihr und sie begannen miteinander zu reden. Das Gespräch nahm eine überraschende Wendung, als Ayumi ihm von ihrem Treffen mit der Polizei erzählte.
Ayumi sagte: »Sie haben mich gefragt, wer du bist, Watana. Ich habe ihnen gesagt, dass du eine wichtige Persönlichkeit bist, ein Agent, der den Spielplatz von einem Fluch befreit hat. Ich sagte ihnen, dass sie dich unbedingt laufen lassen sollten, wenn sie nicht in Lebensgefahr geraten wollen.«
Watanabe war überrascht von diesen Worten und wusste nicht, ob er sie loben oder tadeln sollte.
»Ayumi, warum hast du ihnen das erzählt? Was meinst du mit einem Fluch und einem befreiten Spielplatz?«
Ayumi seufzte und blickte ihm direkt in die Augen. »Watana, so heißt du doch, oder? Ich habe von einer alten Legende gehört, die besagt, dass jeder, der den Schädel berührt, verflucht ist. Alle, die den Schädel anfassen, erfahren das Unheil, das er mit sich bringt. Ich muss wissen, ob du ihn angefasst hast, denn wenn das der Fall ist, dann sind wir auch verflucht. Denn ich bin in deiner Nähe und der Fluch geht dann auch auf mich über.«
»Ayumi, ich habe den Schädel berührt. Aber wir dürfen uns nicht von Angst und Spekulationen kontrollieren lassen.« Als er das sagte, merkte er, dass er ein wenig lallte. Meine Güte, er hatte schon etwas zu viel getrunken.
Ayumi nickte zustimmend und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Du hast recht, Watana. Wir werden uns nicht von Furcht oder Aberglauben beeinflussen lassen. Wir werden diesen Fluch durchbrechen und die Wahrheit ans Licht bringen!« Sie erhob ihr Glas und kicherte. Er stieß mit ihr an.
Als Watanabe zum Pool hinübersah, tanzte Tatsuo Engtanz mit Yui. Verdammt, was sollte das?
»Möchtest du tanzen?«, fragte ihn Ayumi.
»Ja, warum nicht.«
»Heißt das 'gern'? «, fragte sie nach. Er nickte und ging mit Ayumi tanzen.
Als er während des Tanzes zu Tatsuo und Yui hinüberblickte, warf sie ihm einen strengen Blick zu, den er freudig als Zeichen von Eifersucht deutete. Wenig später war Tatsuo wieder in der Menge, die sich um den Schauspieler Kenji Matsuda drängte.
Watanabe tanzte immer noch mit Ayumi und beobachtete, wie Yui sich an den Rand des Pools setzte. Sie war ihm jetzt so nah, dass sie wissen musste, dass er sie über Ayumis Schulter hinweg ansah. Er konnte nicht anders. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und beide Beine bis zur Mitte der Waden ins Wasser gehängt. Nun saß sie da wie eine Nymphe, die gerade aus dem Bade gestiegen war oder gleich wieder hineingleiten würde. Yui griff in ihre Handtasche. Wenn sie jetzt auch noch ihr Haar öffnete und anfing, es zu kämmen, dann würde sie es wirklich übertreiben, dachte Watanabe. Einige andere Männer waren bereits auf sie aufmerksam geworden.
Doch sie holte Tatsuos Schiffchen heraus. Sie setzte es in das von unten beleuchtete, türkis schimmernde Wasser des Pools, lehnte sich ein Stück vor und gab ihm einen kleinen Schubs. So ließ sie es davonschwimmen. Dann sah sie in Watanabes Augen und nickte ihm zu.
geschrieben am 08.02.2024
Copyright Bente Amlandt









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