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17. Augenblicke

  • 8. Feb. 2024
  • 18 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 3. Juni


Nakamura geht voran
Nakamura geht voran

Am nächsten Morgen saß Watanabe unten im Restaurant des »Kuroi Yoru« und frühstückte. Durch das Fenster konnte er die vorbeifahrenden Taxis und Flugtaxis beobachten, während auf der anderen Straßenseite noch die Schäden des Taifuns beseitigt wurden. Oumu scherzte wieder fröhlich mit den Gästen und verbreitete gute Laune. Zum Glück funktionierte auch der Strom wieder.


Watanabe nutzte den Morgen, um über seine nächsten Schritte nachzudenken. Sollte er zur Polizei gehen und sich den Fragen und Untersuchungen stellen? Er hatte Angst davor, auch weil er wusste, dass hier auf einer Polizeistation anders gearbeitet wurde als im alten Europa. Watanabe erinnerte sich daran, dass die japanische Polizei eine unpolitische Organisation war, die unter der Aufsicht der nationalen Polizeibehörde stand. Diese Behörde war frei von direkter Regierungskontrolle und wurde von einer unabhängigen Justiz kontrolliert. All dies verstärkte seine Bedenken. Außerdem hatte er das Gefühl, hier weniger über seine Rechte und Möglichkeiten informiert zu sein als in New York oder Paris, wo er oft mit Anwälten zu tun hatte und sich seiner Möglichkeiten und Grenzen immer bewusst war. Das betraf Steuerfragen, Markenschutz und vieles mehr. Aber die Ungewissheit, wie die Polizei hier reagieren würde und welche Konsequenzen seine Aussagen haben könnten, nagte an ihm.


Trotz seiner Zweifel wusste Watanabe, dass er sich nicht vor den Ereignissen und den Fragen der Polizei verstecken konnte. Er musste sich der Situation stellen und seine Kooperation anbieten, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Etwas anderes konnte er auch Yui und Tatsuo nicht antun. Sie verließen sich auf ihn. Er musste jetzt an die Front und die Dinge klären, damit seine Freunde wieder Ruhe hatten. Und natürlich durfte er Tatsuo nicht erwähnen, geschweige denn den ganzen Horrortrip mit der Anderson-KI in der Firma.


Fieberhaft hatte er im Internet nach Berichten über die Goto-X-SF gesucht, aber er hatte nicht einmal etwas über die Schäden in der Fabrik gelesen, und auf der Website waren immer noch die Fotos von Hiroshi Watanabe und William, Bill, Anderson zu sehen, freundlich und menschlich lächelnd wie eh und je.


Während er den letzten Bissen seines Frühstücks aß, fasste er einen Entschluss. Er würde zur Polizei gehen, aber er würde vorsichtig sein, denn wahrscheinlich würde er hier, wohlhabend oder nicht, nicht so leicht einen Anwalt bekommen wie in Paris. Und das wollte er auch nicht. Anwälte bedeuteten Gerede und Presse. Kaum tauchte ein teurer Anwalt auf einer Wache auf, lauerten sie wieder überall mit ihren Kameras. Und wenn einer der Polizisten erst einmal herausfand, dass er die »Watanabe Express« produzierte und sein Vater Stahlrohre und KI, dann war ein Medienrummel garantiert. Und das wollte Watanabe vermeiden. Er musste den Ball flach halten, wie es so schön hieß. Vielleicht konnte er durch Kooperation zu einer Lösung beitragen. Und dann könnte er sicher bald beruhigt nach Paris zurückfliegen.


Watanabe zog einen von Tatsuos guten Anzügen an, schöne neue weiße Turnschuhe, die er auch bei Tatsuo gekauft hatte, und verließ sein Hotelzimmer. Er wollte sich von Oumus Freund Fred zur nächsten Polizeistation fahren lassen, aber Fred war unterwegs und es war kein anderes Taxi oder Flugtaxi zu bekommen, weil alle in ihre Apartments zurückflogen oder zum Einkaufen fuhren und viele eigene Fahrzeuge wohl den Geist aufgegeben hatten. Hinzu kam, was ihm ein anderer Hotelgast erzählt hatte: In den U- und S-Bahnen herrschte heute wohl auch das blanke Chaos. Also beschloss Watanabe, die zweieinhalb Kilometer zur nächsten Polizeistation zu Fuß zu gehen.


Auf dem Weg dorthin ging Watanabe durch die belebten Straßen Tokios. Es war Morgen und der Verkehr war bereits in vollem Gange. Taxis und Flugtaxis fuhren an ihm vorbei, Fußgänger eilten ihrer Wege. Das geschäftige Treiben um ihn herum ließ ihn für einen Moment vergessen, worum es eigentlich ging. Er ließ den Blick schweifen und bemerkte die Schäden, die der Taifun in den Straßen hinterlassen hatte. Die Stadt schien sich langsam zu erholen. Als Watanabe weiterging, fiel ihm auf, wie friedlich und organisiert alles um ihn herum wirkte. Die Menschen gingen ihrer täglichen Arbeit nach, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen. Er war beeindruckt von der Energie und Effizienz der Stadt.


Schließlich erreichte er die Polizeistation seines Viertels. Als er durch die Eingangstür trat, überkam ihn ein Gefühl der Nervosität. Aber er atmete tief durch und erinnerte sich daran, dass er hier war, um Klarheit zu schaffen.


Watanabe betrat aufgeregt die Polizeistation und wurde sofort in ein Zimmer geführt. Auf dem Flur sah er plötzlich Ayumi, die Kindergärtnerin aus der Kirschblütenallee. Ein Schreck durchfuhr ihn. Warum war sie hier? Was, wenn sie der Polizei erzählte, dass er den Schädel nachts auf dem Spielplatz ausgegraben hatte?


Seine Nervosität stieg, als Watanabe den Vernehmungsraum betrat und zwei japanische Polizisten auf ihn warten sah. Der große, schlanke Polizist stellte sich als »Nakamura« vor, der ältere, mit rundem Gesicht und Glatze als »Tanaka«. Ihre ernsten Gesichter machten Watanabe noch unruhiger. Er schätzte die Situation so ein, dass Herr Nakamura gerade Karriere machte und sehr engagiert war, denn seine Uniform, sein gepflegtes Äußeres und ein gewisser Glanz in seinen Augen verrieten, dass er es liebte, in den Ring eines Verhörs zu steigen.

Der andere, dessen Konturen nicht so scharf, sondern eher verwaschen waren, war für ihn nicht greifbar. Herr Tanaka hatte im Gegensatz zu seinem smarten jüngeren Kollegen offensichtlich schon so viele Verhöre geführt, dass ihn die Lügen der Verbrecher völlig zermürbt hatten. Er hatte es wohl aufgegeben, mit den Augen Botschaften zu senden, und hielt seine Lider in gleich bleibend kleinem Abstand, während er ihn fixierte. Vielleicht war das seine Masche, dieses Pokerface, oder es lag an zu viel Matetee oder Reisschnaps. Wie dem auch sei, Watanabe musste nicht nur den Engagierten in dieser Runde überzeugen, sondern auch das alte stumpfe Tanaka-Walross ohne Haare, das war Watanabe sofort klar.


Herr Nakamura sagte: »Guten Tag, Herr Watanabe. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen. Bitte setzen Sie sich.«


Watanabe setzte sich zögernd auf den Stuhl und blickte nervös zwischen den beiden Polizisten hin und her.

Er sagte: »Guten Tag. Darf ich fragen, worum es geht?«


Nakamura erklärte ihm: »Es geht um einen gewissen Ren Mituil. Kennen Sie diesen Mann?«


Watanabe zögerte einen Moment und überlegte, was er antworten sollte. Erinnerungen an seine Kindheit und den Umzug nach Paris drängten sich ihm auf. Er entschied sich für die Wahrheit.

Also antwortete er: »Ja, ich kenne Ren Mituil. Er war mein Nachbar hier in Tokio, als ich noch ein Kind war. Als ich zehn war, bin ich zu meiner Tante nach Paris gezogen.«


Nakamura nickte. »Ich habe Ihre Geschichte studiert. Sie sind nach der Ermordung Ihrer Mutter und der Verhaftung Ihres Vaters zu Ihrer Tante Aimée nach Paris gezogen, nicht wahr?«


Watanabe bejahte. Es ärgerte ihn, dass dieser hübsche Streber Nakamura alles wusste und ihn trotzdem mit solchen Fragen quälte. Sein Blick wanderte zu dem unbeweglichen Berg von Tanaka, der ihn nur ansah. Aber das war mehr und machte mehr mit Watanabe als Nakamuras Fragen.


»Woran erinnern Sie sich noch? Erzählen Sie mir mehr über Ren Mituil!«


Watanabe fühlte, wie sein Herz schneller schlug. Er wollte nicht über die traumatischen Ereignisse von damals sprechen. Plötzlich hatte er die Bilder wieder vor Augen. Er sah noch einmal, wie die Polizei seinen Vater abführte und er ihm nachsah. Er sah, wie er als kleiner Junge in ein Taxi gestoßen wurde und Tatsuo durch die Heckscheibe anschaute. Yui war in ihrem Haus hinter dem Vorhang verschwunden.


»Nun, Herr Watanabe? Teilen Sie uns Ihre Gedanken mit?«


Als er nichts sagte, fragte Nakamura weiter: »Bitte versuchen Sie, sich so genau wie möglich zu erinnern. Wann und wo haben Sie Ren Mituil zum letzten Mal gesehen?«


Watanabe grübelte. Er sah Yui hinter dem Vorhang verschwinden. Aber wo war Ren? Wenn Anderson recht hatte, musste Ren in der Nacht zuvor von Hiroshi erschossen und auf dem Spielplatz vergraben worden sein. In derselben Nacht, in der Ren versehentlich Sakura und nicht Hiroshi getötet hatte. Vermutlich hatte Ren mit Sakura durchbrennen wollen.


Schließlich sagte Watanabe: »Hören Sie, ich war zehn Jahre alt. Ich weiß nicht mehr, wo Ren war. Ich hatte gerade meine Mutter ... und meinen Vater verloren.«


Nakamura warf Tanaka einen kurzen Blick zu. Dieser Blick schien zu genügen. Er sah wohl ein, dass er so nicht weiterkam.


Innerlich vertiefte sich Watanabe nun in das Bild und das Gefühl. So hatte er noch nie über den Verlust seiner Eltern gesprochen. Musste er ausgerechnet heute auf einer Polizeistation so bereit sein, sich seinen Gefühlen zu öffnen? Das war keine Therapiestunde, sondern ein Verhör, verdammt. Er sollte sich zusammenreißen.


Obwohl er nun wusste, dass sein Vater kein Mörder war, kehrte das alte Gefühl zurück, das schon viel länger in ihm gewohnt hatte: Er fühlte sich betrogen, belogen, weggeschickt und ungeliebt. Und er schämte sich, denn er schämte sich für seinen Vater und für die große Schuld, die er auf sich geladen hatte. Und zugleich trauerte er um seine Mutter. Es war eine unglaublich heftige Mischung, die alles in allem wohl dazu geführt hatte, dass Watanabe sich lieber mit dem Innenleben einer Küchenmaschine beschäftigte als mit anderen Menschen.


Und nun saß er hier vor diesem Traumpaar jeder Vorabend- oder Spätkrimiserie und wusste nicht, welche Rolle er spielen sollte. Es konnte doch wohl nicht die des Täters sein, oder? Er war es, dem so viel genommen worden war. Vor allem Vertrauen.


Sie warteten. Nakamura versuchte, die Ruhe des älteren Tanaka zu kopieren, was ihm nicht ganz gelang, denn seine Finger zuckten unruhig auf dem Tablet hin und her, auf dem er offensichtlich alle Unterlagen zu Watanabe und dem zu lösenden Mordfall gespeichert hatte.


Watanabe räusperte sich. Schließlich sagte er: »Ich... Ich will nicht über die Vergangenheit sprechen. Es sind schmerzhafte Ereignisse, die ich am liebsten vergessen möchte.«


Tanaka und Nakamura tauschten erneut einen kurzen Blick aus. Sie schienen zu verstehen, dass dieses Thema für Watanabe eine emotionale Belastung darstellte.


Nakamura erwiderte: »Das ist verständlich, Herr Watanabe. Wir wollen Sie nicht noch mehr belasten. Alles, was wir brauchen, sind Informationen über Ren Mituil. Wenn Sie uns irgendwie helfen können, wäre das sehr hilfreich.«


Watanabe nickte erleichtert. Er beschloss, so viel wie möglich zu erzählen, ohne zu weit in die Vergangenheit zu gehen. Dann antwortete er: »Natürlich werde ich mein Bestes tun, um Ihnen zu helfen. Was genau wollen Sie über ihn wissen?«


Zum ersten Mal ergriff nun Herr Tanaka das Wort. Mit tiefer Stimme fragte er: »Herr Watanabe, wie war das Verhältnis zwischen Ren Mituil und Ihren Eltern?«


»Gut. Sie waren miteinander befreundet.«


Herr Tanaka fragte weiter: »Und können Sie uns sagen, was genau Ren in der Firma Ihres Vaters, Hiroshi Watanabe, gemacht hat?«


»Ehrlich gesagt wusste ich bis vor kurzem nicht einmal, dass er in der Goto-X-SF gearbeitet hat.«


»Bis vor kurzem? Was soll das heißen? Wann haben Sie davon erfahren?«, wollte Herr Tanaka wissen.


Watanabe schwitzte noch mehr. Er konnte ihnen ja schlecht sagen: »Ach, wissen Sie, eine durchgeknallte KI, die sich als Geschäftspartner meines Vaters ausgegeben und vermutlich den echten Anderson und meinen Vater umgebracht hat, hat mir erzählt, dass Ren ihn damals wie auf einem Sklavenmarkt in Paris herumgeführt hat.« Also musste er etwas anderes sagen.

Und so erklärte er nun: »Ich…ich habe mit Yui darüber gesprochen. Ich habe sie zufällig in Kamakura getroffen, als ich meine Großmutter dort besucht habe. «


»In den Tempelanlagen?« Tanaka sah ihn durchdringend an.


Neben ihm saß Nakamura, der verwirrt und verärgert zugleich wirkte, weil er wohl lieber das Verhör führen wollte und vermutlich wenig Lust dazu hatte, jetzt über Großmütter und Tempel zu diskutieren.


Watanabe erklärte lächelnd und froh über ein anderes Thema: »Ja, meine Obasan hat einen Ausflug dorthin gemacht und ich hielt es für eine gute Idee, auch dort hinzufahren und sie zu treffen.«


»Sie und Yui«, bemerkte Tanaka.


»Ja. Aber ich wusste nicht, dass Yui dort war. Und dass sie dort als Reiseleiterin arbeitet. Das war reiner Zufall.«


Nakamura übernahm wieder. Plötzlich drehte er sein Tablet um und zeigte Watanabe das Foto eines Schädels, der ihm natürlich sofort bekannt vorkam.


»Und? War das auch reiner Zufall? Erkennen Sie ihn wieder?«, fragte Nakamura.


»Nein, warum? Warum zeigen Sie mir dieses Bild?«


»Sie sind ein schlechter Lügner, Herr Watanabe. Wo haben Sie ihn her?«


»Ich? Ich besitze keinen solchen Schädel. Die Frage ist eher, wo SIE ihn her haben.«, entgegnete er nun und fand, dass er seine Rolle jetzt ganz gut spielte.


Plötzlich fragte Herr Tanaka: »Waren Ren und ihr Vater Hiroshi während des Cyberkrieges in Paris?«


»Nein, mein Vater nicht. Er konnte die Firma nicht verlassen.«


»Ihr Vater nicht, aber Ren Mituil schon, oder? Er war in Paris.« Jetzt tippte Tanaka auf Nakamuras Tablet und gab ihm damit zu verstehen, dass er weitere Fragen stellen sollte. Nakamura verstand sofort und erklärte: »Wir wissen, dass Ren Mituil in Paris eine Art Super-KI vorgeführt hat. Ein Modell, das damals als das Menschlichste aller Modelle gefeiert wurde«.


Watanabe zuckte mit den Schultern. Da er sehr flach atmete, bemühte er sich, jetzt tiefer zu atmen. Er hoffte, dann nicht mehr so nervös zu wirken.


»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich war ein Kind. Und ich kann Ihnen beim besten Willen nichts über Rens Aktivitäten während des Cyberkrieges sagen. Bitte verraten Sie mir endlich, warum ich wirklich hier bin.«


Nakamura hatte wohl keine Lust mehr, wie die Katze ums Mauseloch zu schleichen, und so preschte er vor: »Wir haben Ihre Fingerabdrücke auf dem Schädel gefunden, Herr Watanabe.«


»Meine ...?«


Zunächst hatte er laut »Verdammt!« rufen wollen, was er zum Glück noch hatte unterdrücken können. Jetzt schossen ihm Dutzende von Fragen durch den Kopf: Warum zum Teufel hatte er keine Handschuhe angezogen? Warum und woher hatten sie seine Fingerabdrücke in ihrer Akte? Machten Fingerabdrücke auf einem Schädel einen sofort verdächtig? Bedeutete das nicht nur, dass er den Schädel gefunden hatte?


»Das hier ist der Schädel von Ren Mituil, Herr Watanabe.«


»Bitte? Das ist ja schrecklich. Ren ist tot?«


»Ja. Zum Glück lügen nicht alle Menschen so schlecht wie Sie. Wir haben gehört, dass Sie als Agent hierhergekommen sind.«


»Wie bitte? Wer behauptet denn so etwas?«


»Das spielt jetzt keine Rolle. Wir wollen wissen, ob Sie hier im Auftrag einer anderen Behörde tätig sind und ob es zu Ihren Aufgaben gehört, diesen Mordfall aufzuklären.«


Jetzt stand Watanabe für einen kurzen Moment der Mund offen. Wie ungeschickt der schöne Nakamura doch war! Da gab er ihm doch glatt selbst das beste Alibi!


Watanabe nickte nun. »Das ist richtig. Ich sollte den Fall aufklären, weil ich mich mit den Auswirkungen des Cyberkrieges auf die innere und äußere Sicherheit meines Landes beschäftige. Dazu gehören auch alte und ungeklärte Mordfälle aus dieser Zeit.«


Nakamura lächelte stolz. Er strahlte. Er sah aus, als wollte er gleich ausrufen: »Ich hab's doch gesagt! Ich hab's gewusst.«


Tanakas Gesicht blieb so unbeweglich wie das eines bronzenen Buddhas. Dann fragte er: »Für welches Land arbeiten Sie?«


»Nun, das darf ich Ihnen nicht sagen. Wenn Sie es nicht schon wissen, könnte es Sie in große Schwierigkeiten bringen. Sie sollten auch schnell vergessen, was Sie gerade gehört haben.«

Nun wurde Watanabe übermütig, denn er hielt sich jetzt selbst für einen hochrangigen Agenten der Agency, und so fügte er großspurig hinzu: »In Ihrem eigenen Interesse sollten wir dieses Verhör jetzt besser beenden.«


Nakamura wirkte verunsichert. Seine Wimpern zuckten und er wischte mit dem rechten Zeigefinger über sein Tablet, als könnte er dort eine Antwort finden.


Tanaka sah Watanabe wieder direkt an und sagte: »Wie Sie wissen, kooperiert Ihre Behörde nicht unbedingt mit unserer. Also nennen Sie uns einen guten Grund, warum wir Sie jetzt nicht verhaften und hier festhalten sollten. Wenn Sie so wertvoll sind, wie Sie behaupten, dann nützen Sie uns als Gefangener und Geisel mehr, als wenn wir Sie jetzt laufen lassen.«


Er beherrschte seine Rolle perfekt, dachte Watanabe. Aber auch er würde jetzt seine neue Position ausnutzen und den coolen Agenten mimen.


»Na schön. Ich sage es Ihnen: Ich bin nicht allein hier. Ich arbeite mit einem Team von Leuten zusammen. Und die sind eingeweiht. Wenn ich plötzlich wie vom Erdboden verschluckt bin, dann werden Sie Verdacht schöpfen. Und wenn ich innerhalb der nächsten Woche nicht zurück bin, dann werden meine Leute Konsequenzen ziehen und meine Behörde wird natürlich eine Untersuchung einleiten und noch mehr Leute hierher schicken. Die Frage ist nur, ob Sie das wirklich wollen, Herr Tanaka?«

Triumphierend schaute Watanabe den Buddha an. So gut hatte er sich das letzte Mal gefühlt, als er die »Sack & Bright«-Holding aufgekauft hatte.


Jetzt setzte er noch einen drauf, schaute zu Herrn Nakamura, der plötzlich immer blasser und schmaler zu werden schien, und fragte ihn: »Und die Frage ist, ob Herr Nakamura seine Karriere mit so einer Geschichte belasten will? Mit einer Geschichte, die ihn nicht nur seinen Job kosten könnte...«


Verärgert stand Herr Nakamura auf. Dann ging er ein paar Schritte auf und ab und setzte sich wieder. Schließlich bat er Herrn Tanaka, kurz mit ihm nach draußen zu kommen, um sich zu besprechen. Widerstrebend erhob sich Herr Tanaka. Seine Gedanken schienen jetzt genauso schwer zu sein wie sein Gang.


Nachdem sie den Raum verlassen hatten, war Watanabe danach, ein kleines Freudentänzchen zu vollführen. »Gut gemacht, Watanabe! «sagte er zu sich selbst. »Du cooler Agent, Watanabe! Dein Vater wäre stolz auf dich!«

In diesem Moment des Überschwangs wurde ihm wieder bewusst, dass er nicht wusste, wo sein Vater steckte und ob er überhaupt noch lebte. Er sah sich schon wieder mit Fred zur Fabrik fahren. Ja, das wäre er Hiroshi schuldig. Er musste es herausfinden. Wofür hatte er sich denn gerade selbst zum Agenten ernannt?


Verdammt, aber was, wenn sie ihn nicht rausließen? Dann hätte er verloren. Nicht nur seinen Job, sondern alles. Wenn die Presse davon erfahren würde, dann hätte er gestern Abend seine letzte Watanabe-Express zu Hiroko und Kazuki in die Berge von Akimura geschickt. Und dort würde die schöne Maschine eines Tages wie ein Museumsstück von einem Reisenden betrachtet werden, der sich fragte, was wohl eine Watanabe-Express wäre und was man damit machen könnte.


Tanaka betrat allein den Verhörraum und setzte sich Watanabe gegenüber. Der alte, dicke Polizist strich sich über seine Glatze und wirkte nachdenklich.

Dann sagte er: »Herr Watanabe, ich muss Ihnen sagen, dass Sie es geschafft haben. Ihre Aussagen haben uns dazu bewogen, Sie vorerst laufen zu lassen.«


Watanabe war erleichtert. Er hatte gehofft, aber nicht unbedingt damit gerechnet, dass seine Aussagen und sein Auftreten eine solche Wirkung haben würden.

Er sagte: »Ich bin froh, das zu hören. Vielen Dank für die Gelegenheit, mich zu erklären.«


Doch die Freude währte nur kurz. Denn Tanaka straffte sich und sein Gesicht wurde wieder ernst.

»Aber machen Sie sich keine falschen Hoffnungen, Herr Watanabe. Wir werden den Mord an Ren Mituil weiter untersuchen und dazu gehören auch weitere Verhöre. Da Ihr Vater, Hiroshi, eng mit ihm zusammengearbeitet hat, werden wir auch ihn befragen müssen.«


Watanabe erstarrte bei der Erwähnung seines Vaters. Er fragte sich, ob es der Polizei tatsächlich gelungen war, ihn zu finden. Vielleicht wussten sie mehr über ihn als er? Und vielleicht hatte er jetzt, als Agent eines anderen Landes, keine Chance mehr, mehr von ihnen zu erfahren.


Tanaka hob eine Augenbraue und sah Watanabe skeptisch an. »Wir werden Hiroshi Watanabe befragen und dann sehen wir weiter.«


»Natürlich«, sagte Watanabe mit einer Stimme, die nicht mehr ganz so zuversichtlich klang wie zuvor.


Sein Vater stand wieder einmal im Mittelpunkt der Ermittlungen. Er konnte nicht glauben, was hier vor sich ging und wie die Anderson KI ihn so in die Irre hatte führen können. Watanabe wusste plötzlich nicht mehr, was er noch glauben konnte und was nicht.


Jetzt erhob sich Herr Tanaka. Als er an ihm vorbeiging, wunderte sich Watanabe, wie klein er war, denn während des Verhörs war er ihm wie ein Koloss vorgekommen, aber das musste wohl an seinem Pokerface und seinem taktischen Geschick gelegen haben.


Langsam verließ Watanabe den Verhörraum und trat auf den Flur hinaus. Doch statt Erleichterung zu verspüren, erstarrte er, als er seinen Vater dort sitzen sah - Hiroshi Watanabe! ... Sein Herz schlug schneller. Hiroshi stand auf und wollte Watanabe umarmen, doch bevor er dazu kam, wurde er von Nakamura in den Verhörraum geführt. Watanabe konnte nicht glauben, dass sein Vater noch lebte, und er verstand nicht, woher er plötzlich kam. Die fremde KI hatte ihm doch gesagt, sie hätte Hiroshi entführt. Welches Spiel wurde hier gespielt?


Watanabe nahm ein Lufttaxi, um zum Hotel zurückzufliegen. Er beschloss, sofort die Firma seines Vaters anzurufen. Er wählte die Nummer und wurde mit Frau Suzuki, der Chefsekretärin seines Vaters, verbunden.


Sie sagte: »Guten Tag, Goto-X-SF-Industries. Mein Name ist Sue Suzuki. Was kann ich für Sie tun?«


Watanabe: »Guten Tag, Frau Suzuki. Mein Name ist Watanabe. Ich bin der Sohn von Hiroshi Watanabe. Ich würde gerne meinen Vater sprechen. Ist er da?«


»Oh, es tut mir leid, aber Ihr Vater ist gerade in einer wichtigen Besprechung und nicht zu sprechen.«


Da sagte Watanabe: »Bitte, es ist wirklich dringend. Ich muss ihn unbedingt sprechen.«


Sie zögerte einen Moment, bevor sie antwortete.

»Gut, Herr Watanabe. Ich werde noch einmal versuchen, ihn zu erreichen. Bitte warten Sie einen Moment.«


Während Watanabe in der Leitung blieb, stieg seine Nervosität erneut.


Wieder war Frau Suzuki am Apparat: »Herr Watanabe, bitte entschuldigen Sie die Wartezeit. Ihr Vater ist leider immer noch nicht da. Er muss etwas Wichtiges klären...«


Watanabe ließ nicht locker: »Kann es sein, dass er gerade abgeholt wurde und zu einem Verhör musste? Sagen Sie einfach ja oder nein. Ist er bei der Polizei?«


Schließlich antwortete sie: »Ja, in der Tat, Herr Watanabe.«


»Und wo war er vorher? Ich habe schon einmal angerufen. Da wurde mir gesagt, er wäre auf Geschäftsreise.«


»Das stimmt. Er ist erst gestern zurückgekommen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Am besten, Sie vereinbaren einen Termin mit Ihrem Vater und klären das alles persönlich.«


Watanabe: »Danke für die Information. Und wie groß ist der Schaden in der Fabrik? Ich habe gehört, dass der Taifun einiges zerstört hat.«


Sie wurde etwas unruhig, was er an ihrem Atem merkte, aber gut geschult, wie sie wohl war, blieb sie ruhig und beantwortete nun auch seine letzte Frage. »Es gab einige Schäden, Herr Watanabe, aber nichts, was nicht repariert werden könnte. Einige Hallen haben etwas abbekommen, aber es wird bereits an den notwendigen Reparaturen gearbeitet.«


Watanabe: »Ich verstehe. Und wie erreiche ich den zweiten Geschäftsführer, Herrn Anderson? Können Sie mir bitte sagen, wo er ist?


»Herr Anderson ist gerade in den USA, um eine neue Filiale zu eröffnen.«


Watanabe konnte es kaum glauben. Es gab doch gar keinen Anderson mehr! Aber er beschloss, nichts mehr dazu zu sagen.


Jetzt meinte er: »Verstehe, vielen Dank für Ihre Hilfe. Es ist sehr wichtig, dass ich mit meinem Vater spreche. Bitte teilen Sie mir mit, wann er Zeit hat, oder leiten Sie meine dringende Bitte um ein Gespräch an ihn weiter.«


»Natürlich. Ich werde mein Bestes tun, um Ihre Nachricht weiterzuleiten und dafür zu sorgen, dass Sie kontaktiert werden. Auf Wiederhören.«


Watanabe legte mit einem leicht enttäuschten Seufzer auf. Er hatte gehofft, sofort einen Termin zu bekommen, aber die Informationen von Frau Suzuki waren trotzdem hilfreich. Er beschloss, geduldig auf eine Rückmeldung zu warten und auf weitere Informationen von seinem Vater zu hoffen.


Inzwischen waren sie am Hotel angekommen. Er bezahlte den Fahrer, stieg aus und ging an der Rezeption und dem kaputten Roboter Dito vorbei zur Bar, hinter der Oumu bereits einige Touristen bediente. Sie war überrascht, ihn schon am frühen Nachmittag zu sehen.


»Einen Skylight-Cocktail, bitte.«

»So schlimm?«, fragte sie.

Mit gekonnten Bewegungen schnitt sie Limetten auf, gab Crushed Ice in ein hohes Glas, fügte braunen Zucker, Rum und Wassermelone hinzu und steckte noch einen Strohhalm und einen kleinen Schirm hinein, den Watanabe sofort wortlos von der Limette zog und in die Spüle warf. »Ich brauche keine Dekoration. «, sagte er.


»Das ist nicht gerade die feine japanische Art«, beschwerte sich Oumu, nahm das Schirmchen aus der Spüle und steckte es in ihre heute grüne Perücke.

Sie sah aus, als würde sie heute einen irischen Feiertag begehen. Auf ihrer grünen Bluse waren Kleeblätter und Gitarren abgebildet, sie trug Noten als Ohrringe und ihr weiter Rock gab bei jeder Bewegung melodische Töne von sich. Das war der letzte Schrei in Tokio. Watanabe hatte es schon häufig gesehen und noch häufiger gehört: Melody-skirts, Röcke, die Töne oder ganze Melodien von sich gaben. Er fand das überflüssig, besonders in einer Metropole, die schon genug Lärm und Geräusche zu bieten hatte.  


Ohne ein Wort zu sagen, trank er seinen Skylight-Cocktail, um seine Gedanken zu beruhigen und das Geschehene zu verarbeiten. Tokio schien um ihn herum weiterzuleben, während er mit den Wirren der vergangenen Tage kämpfte. Plötzlich wünschte er sich weit weg in die Berge, vielleicht in eine Hütte in Akimura.


Während er seinen Cocktail trank, klingelte plötzlich sein Cleverphone. Es war Yui. Er nahm ab und hörte ihre besorgte Stimme.


Sie fragte: »Takumi, was ist passiert? Du warst doch bei der Polizei, oder? Ist alles in Ordnung?«


Watanabe: »Ja, alles in Ordnung. Woher weißt du das? Mach dir keine Sorgen, Yui. Alles ist in Ordnung. Sie haben mich nur gefragt, wann ich Ren das letzte Mal gesehen habe.«


Yui atmete am anderen Ende der Leitung erleichtert auf. »Gott sei Dank. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als du plötzlich zur Polizei musstest. Ich bin froh, dass es nichts Ernstes ist.«


Watanabe antwortete: »Ja, es war wirklich nicht so schlimm. Ich muss zugeben, dass es mich auch ein bisschen überrascht hat. Aber jetzt ist alles wieder gut.«


»Gut, das freut mich zu hören.«


Watanabe schlug vor: »Übrigens, wie wäre es, wenn wir unsere Verabredung zum Essen nachholen?«


Yui reagierte erfreut: »Ja, das ist eine tolle Idee! Wir könnten uns in dem kleinen Restaurant treffen, das Tatsuo ausprobieren wollte. «


»Okay «, sagte Watanabe und fragte dann: »Wie wäre es mit morgen Abend?«


»Perfekt. Ich sage Tatsuo sofort Bescheid. Um 8 Uhr? Passt dir das?«


Watanabe bejahte. Nachdem sie die Details besprochen hatten, verabschiedeten sie sich voneinander. Anschließend stöhnte Watanabe. Warum zum Teufel wollte sie Tatsuo dabei haben? Merkte sie denn gar nichts?


Er bestellte sich bei Oumu noch einen ihrer neuen »Dark Taifun Cocktails«.

Etwas angetrunken lehnte er sich an den Tresen und betrachtete sein Spiegelbild in der nahen Glaswand. Seine Gedanken wanderten zu Yui und der bevorstehenden Essenseinladung. Ein leicht unsicherer, aber neugieriger Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

Während er sein Spiegelbild betrachtete, versuchte Watanabe, sich durch Yuis Augen zu sehen. Er fragte sich, ob sie ihn schön fand oder was genau sie an ihm mochte. Es war ein Gedanke, der ihm schon lange im Kopf herumschwirrte, aber er hatte nie den Mut gefunden, ihn direkt anzusprechen.

Die Tatsache, dass Yui Tatsuo bei dem Treffen dabei haben wollte, irritierte ihn ein wenig. Er verstand nicht, warum sie ihn nicht allein treffen wollte.

Er dachte darüber nach, wie er sich im Vergleich zu Tatsuo sah. Er fand sich attraktiv. Er fühlte sich besser als Tatsuo und konnte nicht verstehen, warum sie ausgerechnet ihn bei diesem Treffen dabei haben wollte. Doch dann schüttelte er den Kopf und versuchte, die unsicheren Gedanken zu verdrängen. Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht. Es war nicht wichtig, sich mit anderen zu vergleichen oder sich Gedanken über sein Aussehen zu machen. Was zählte, war die Verbindung zwischen ihm und Yui, die Chemie zwischen ihnen.

Mit diesem Gedanken im Hinterkopf beschloss Watanabe, sich nicht länger von Unsicherheiten und Vergleichen ablenken zu lassen. Er wollte sich auf das bevorstehende Treffen freuen und die Zeit mit Yui in vollen Zügen genießen. Schließlich zählte für ihn, was sie fühlten und wie sie miteinander kommunizierten - und nicht irgendwelche oberflächlichen Aspekte.

Dann griff er in seine Innentasche und holte das Papierschiffchen heraus, das Hiroko ihm geschenkt hatte. Er balancierte es eine Weile vor sich auf dem Tresen und dachte an die schöne Liebesgeschichte, die Hiroko ihm erzählt hatte. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm.

Oumu stellte den riesigen dunklen Cocktail vor ihn hin. Die Wolke obenauf war Sahne, die in den schwarzen Lakritzlikör tropfte. Fasziniert betrachtete Watanabe Oumus Eigenkreation. Es sah wirklich aus wie die Wolken eines Taifuns. Oumu setzte sich lächelnd neben Watanabe.


»Du siehst nachdenklich aus, mein Freund. Stimmt etwas nicht?«


Watanabe sah zu Oumu auf und lächelte leicht. »Es ist nichts Ernstes, Oumu. Ich denke nur über das Leben und die Liebe nach. Es ist erstaunlich, wie eine einfache Geschichte so viele Gefühle hervorrufen kann.«


Er steckte das Papierschiffchen wieder in seine Innentasche und hob sein Glas zu einem stillen Trinkspruch. Oumu nickte, während ihr Rock ein paar Töne von sich gab.








Wenn du bis hier gelesen hast, dann hast du schon ganze 270 Taschenbuchseiten gelesen (à 180 Wörter pro Seite)! Es folgen noch ca. 2 Kapitel. Toll, dass du Watanabe begleitest! Osu!



geschrieben am 08.02.2024 von Bente Amlandt


Copyright 2024 Bente Amlandt

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