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3. Die Entscheidung

Aktualisiert: 28. Juni

Le chat de Simone


Watanabe schaute sich nicht mehr um, sondern kletterte auf der Feuerleiter zum Innenhof hinunter. Dabei rang er kurz mit sich, denn instinktiv wollte er lieber nach oben fliehen. Das musste noch aus der Zeit der Säbelzahntiger stammen, dachte er. Aber Takumi wusste, dass das Dach dieses Gebäudes eine Sackgasse für ihn wäre, also musste er den Weg nach unten antreten. Da der Innenhof zur Straße hin durch eine hohe Gittertür verschlossen war, erwartete ihn hier zum Glück noch kein zweiter Killer. Da hockte nur der Kater und fauchte ihn wütend an. Was denn, das Vieh lebte noch?

Madame de la Gorge ging mit einem Müllsack auf den Container zu. »Aber Herr Watanabe, was machen Sie denn da?« Dann schrie sie kurz auf, ließ den Müllsack fallen und bückte sich hinunter, um den vom Balkon gestürzten Kater zu begutachten. Noch bevor sie die Reste ihres Rosinenkuchens neben ihm liegen sehen konnte, schritt Watanabe an ihr vorbei in den Hausflur.


Seine Nachbarin rief: »Haben Sie den Schuss gehört? Jetzt schießen die Verrückten schon auf Katzen! Ist das zu glauben?«


Er kümmerte sich nicht um sie, sondern sah zum Treppenhaus hinauf. War der Kerl etwa noch da oben? Der Auftragskiller musste allen Ernstes auf seine Tür geschossen haben. Was für ein Anfänger! Ein Profi konnte das nicht sein. Oder er wollte Watanabe so schnell wie möglich loswerden. Aber dafür auf eine Hochsicherheitstür zu schießen, das war schon ziemlich dämlich. Als ob eine Metalltür wie die Stella Stone 3 jemals so eine blöde Kugel durchlassen würde!


Als Watanabe Schritte von oben hörte, riss er kurzerhand den Besenschrank neben sich auf, stellte sich hinein und zog die Tür schnell wieder zu. Mit klopfendem Herzen stand er nun da wie ein Feigling, wie ein dummer Schuljunge. So würde er seinem Vater bestimmt keine Ehre machen!


Er stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch die oberen Schlitze des Metallschranks, die wie Lüftungsschlitze aussahen. Wer hatte diesen Schrank entworfen? Vermutlich ein ewiger Fremdgänger, der sich vor der vorzeitigen Rückkehr eines Ehemannes fürchtete?


Der Mantelmörder verschwand durch die Haustür. Madame de la Gorge trug den Kater durch den Flur und sagte dabei: »Minou, Minou, armes Schätzchen, bist du schon wieder runtergefallen? Ich bringe dich nach Hause zu deiner Mami!« 

Jetzt ging sie so schwerfällig und laut die Treppe hinauf, als wäre das Minou-Schätzchen tonnenschwer. Watanabe atmete erleichtert auf. Anschließend öffnete er die Schranktür und stolperte hinaus in den Hausflur. Noch einmal sah er hinauf. Dann hörte er, wie die de la Gorge klapperte und säuselte, bis sie bei Simone klingelte, um ihr ihr Schätzchen zurückzubringen.


Natürlich hätte Watanabe nun nach oben in seine Wohnung gehen können. Er hätte sich einen Jasmintee kochen, die Ruhe und die leere Wand genießen und einfach nichts tun können, außer sich über den Erfolg der Watanabe-Küchenmaschine zu freuen. Er hätte es sich mal wieder bewusstmachen können, dass sie ihm genau das ermöglichte: sich den Luxus zu gönnen, nichts zu tun und sogar den unglaublich teuren Fernseher zu verschenken und eine Wand anzustarren, einfach nur, weil er es konnte.


Aber der Brief und der Stick in der Innentasche seines Jacketts drückten auf einmal gegen seine Brust und erinnerten ihn daran, dass er soeben einen Agentenauftrag von seinem Vater erhalten hatte. In diesem Moment fühlte sich Takumi Goro Watanabe so lebendig wie schon lange nicht mehr.


»Ich muss nach Tokio«, sagte er sich. »Jetzt sofort.«

Für einen Geschäftsmann wie ihn war das kein Problem. Er hatte sein Cleverphone, mehr brauchte er nicht. Es war sein Ausweis, seine Bankkarte, seine Identität. Und er hatte sogar seine Iris mit dem neuen System von Hu-U-Re (Who you are) irisieren lassen, sodass er sich im Notfall auch ohne Smartphone ausweisen und bezahlen konnte. Er bräuchte nichts zu packen. Ein Koffer würde auch nur auffallen. Und was sollte er Madame de la Gorge sagen? Nein, er müsste jetzt so los, wie er war. In seinem hellgrauen Alltagsanzug und seinen bequemen weißen Sneakers. Alles andere müsste er sich dann eben unterwegs kaufen oder vor Ort.


Kurzerhand schritt Takumi Goro Watanabe durch den hohen Hausflur, an den Briefkästen vorbei und fühlte sich ein wenig feierlich und zugleich auch melancholisch beim Anblick des bunten Jugendstilfensters. »Wann Watanabe wohl wiederkommt?«, fragte er sich, bevor er die Tür öffnete.


In seiner Straße, der Rue des Ursins, im ältesten Viertel von Paris, der Île de la Cité, brauchte er nur ein paar Meter bis zum Jardin des Ursins zu gehen, um ein Lufttaxi zu nehmen. Und das tat er. Es war kühl und ungemütlich. Der Himmel war so grau wie die Straße. Die Luft roch verpestet wie immer. Die Verrückten zündeten schon wieder Feuer am Fluss an. Kaum jemand ging hier zu Fuß. Seit dem Ende des Dritten Weltkrieges hatten sich hier nicht nur Flüchtlinge, sondern auch Wegelagerer niedergelassen. Sie lebten trotz aller Verbote und Kontrollen an den Ufern der Seine. Diese armseligen Kreaturen hatten sich den Fluss zu eigen gemacht, als würde er sie hervorbringen. Jede Nacht gebar er neue Gestalten. Jeden Morgen wurden sie von der Gendarmerie entfernt. Anschließend räumten Maschinen die Reste weg. Und dann ging das Ganze wieder von vorn los. Manchmal fischten sie auch Leichen aus dem Fluss.


Watanabe ließ die Jalousien mit Blick zur Seine immer geschlossen, obwohl Nathalie gesagt hatte, wie schön es wäre, auf die Seine hinauszuschauen. Aber Nathalie war nur eine Nacht geblieben und die Typen da unten kamen jede Nacht wieder. Also blieben die Jalousien geschlossen. Watanabe schaute aus seiner Wohnung nur vorn hinaus zur Kathedrale.


Verdammt, jetzt war er in eine Pfütze getreten. Die guten Schuhe! Diese Sneakers hatten ihn ein Vermögen gekostet. Watanabe ging schneller. Dabei verschränkte er die Arme vor der Brust, um seine Wertsachen zu schützen und weil es recht kühl war. Heute trug er nicht seinen besten Anzug. Das war gut so. Er sah aus wie ein Vertreter. Ein Japaner, der hier nur Klinken putzte. So wie er es tatsächlich vor vielen Jahren gemacht hatte, bevor er Herrn Sack und Mister Bright kennengelernt hatte. Es war seltsam, aber »Sack und Bright«, die nun wirklich einen guten Grund dafür gehabt hätten, einen neuen Namen für ihre Firma zu erfinden, hatten sofort etwas in ihm gesehen, mehr als Takumi damals selbst. Es war nur gut, dass er darauf bestanden hatte, seine Küchenmaschine »Watanabe-Express« zu nennen und nicht »Sack & Bright Special«.


Jetzt winkte er einem Flugtaxi zu. Dieses hielt, senkte sich herab und er stieg ein.

»A l'aéroport Charles de Gaulle, s'il vous plaît!«, sagte er und wunderte sich selbst darüber, dass es akzentfrei geklungen hatte. Der Fahrer nickte. Dann hoben sie wieder ab und flogen, wie es sich für die Flugtaxis dieses Arrondissements gehörte, nur in Höhe des zweiten Stockwerks der Gebäude in Richtung des Flughafens Charles de Gaulle, der 3,6 km nordöstlich von hier lag.


Es war sonderbar, dachte Watanabe. Hier sprachen nur noch die Chauffeure der Flugtaxis Französisch. Alle anderen sprachen Deutsch oder Englisch. Amerikanisches Englisch. Eine Wohnung in der Rue des Ursins schienen sich nur noch wenige Franzosen leisten zu können. Woran das lag, wusste Watanabe nicht. Vielleicht lebten die wohlhabenden französischen Geschäftsleute auch lieber beim Sacre-Coeur, in der Nähe des höchsten Gebäudes der Stadt. Der neue Towerteiffel sollte an den Eiffelturm erinnern. Watanabe fand ihn hässlich. Die Lofts dort waren allerdings gar nicht so schlecht, das musste er zugeben.


Als sie an der Kathedrale vorbeiflogen, vermutete er, dass man hier nie höher fliegen durfte, als Notre-Dame war. Er lächelte der alten Dame zu. »Drück mir die Daumen!«, flüsterte er in Gedanken dem von Plexiglaswänden umgebenen Dinosaurier der Kirchenbaukunst zu.



Dies ist das Ende der Leseprobe. Zum Buch im Buchshop:






Viel Spaß mit Watanabe wünscht Bente Amlandt!

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