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2. JayBird 7

Aktualisiert: 28. Juni

Hirsohi spricht


Mein lieber Sohn, bestimmt bist du überrascht, nach so langer Zeit etwas von mir zu hören. Ich weiß, dass du mich hasst. Es ist verständlich, dass du mich nie wiedersehen wolltest. Und auch, dass du mir nie verzeihen wirst. Du hast alles Recht der Welt dazu. Ich schreibe dir diesen Brief, weil ich dir etwas sagen muss, bevor ich sterbe. Aus deiner Sicht bin ich ein Monster. Denn du denkst, ich hätte deine Mutter ermordet. Lieber Sohn, du bist wütend und der Meinung, ich hätte dich im Stich gelassen. Du hasst mich, weil ich dir alles genommen habe.

 

Watanabe sah auf. Es stimmte. Jedes Wort war wahr. Alle Gefühle, die sein Vater ihm zuschrieb, stimmten. Er las weiter:

 

Aber jetzt ist an der Zeit, dass ich dir die Wahrheit sage. Ich muss dir die ganze Geschichte erzählen. Ich muss dir erklären, warum ich getan habe, was ich getan habe. Und ich muss dir endlich sagen, wer ich wirklich bin. Ich bitte dich darum, mir zuzuhören und diesen Brief zu lesen. Bitte gib mir eine Chance!

 

Dein Vater Hiroshi

 

 

T. G. Watanabe legte den Brief beiseite und griff nach dem Stick. Er ging in den großen, kombinierten Wohn- und Arbeitsraum und sagte: »Work!«, woraufhin ein gläserner Bildschirm aus dem Tisch fuhr, der sich nun in einen Schreibtisch verwandelte. Watanabe setzte sich und steckte den Speicherstick in seinen Computer. Dann sagte er: »Play!«

Anschließend sah er wie gebannt zum Bildschirm. Dort erblickte er das Bild eines blühenden Kirschbaumes und hörte die Stimme seines Vaters aus den Lautsprechern. Nun sprach er Japanisch mit Takumi.

 

   

Mein lieber Sohn, lieber Takumi Goro,

 

ich weiß nicht, ob du diesen Brief jemals lesen wirst oder ob du dir diese Nachricht jemals anhören wirst. Ob du mir antworten wirst? Auch das weiß ich nicht. Aber ich muss es versuchen. Ich muss dir meine Geschichte erzählen und dir die Wahrheit sagen.

Ich bin nicht der Mann, für den du mich hältst. Ich bin auch nicht der, der ich zu sein scheine. Nie konnte ich sein, wer ich wirklich war. Es ist ein solch hohes Gebäude der Lügen um mich herum entstanden, dass es mich zu erdrücken scheint.

In meinem letzten Albtraum hast du vor mir gestanden und »Warum?« gerufen. Ich habe dich festgehalten und wollte mit dir sprechen, doch du bist weggerannt, so wie damals. Bitte lauf jetzt nicht weg, Takumi Goro! Schalte nicht aus!


Du musst wissen: Ich bin kein Japaner. Ich bin kein Geschäftsmann. Und vor allem bin ich kein Mörder. Ich bin ein Amerikaner. Ein Spion. Ja, du hast richtig gehört, Takumi. Ich wurde in New York geboren, als Sohn eines amerikanischen Agenten und einer japanischen Übersetzerin. Ich wuchs in einer Welt voller Lügen, Intrigen und Gefahren auf. In dieser Welt lernte ich, wie man kämpft, wie man hackt und betrügt. In kurzer Zeit stieg ich schnell auf und wurde über die Jahre zu einem der besten amerikanischen Agenten mit Spezialisierung auf Asien. Man gab mir den Codenamen »JayBird 7«. Ich wurde nach Japan geschickt, um eine geheime Mission zu erfüllen. In Tokio sollte ich die Firma deiner Großeltern infiltrieren, die an einer neuen Technologie arbeitete, die das militärische Gleichgewicht verändern könnte. In »Goto-X-SF« sollte ich Informationen sammeln, Kontakte knüpfen und Sabotageakte durchführen. Ich sollte alles tun, was ich konnte, um die Interessen der USA zu schützen.


Und dann lernte ich deine bezaubernde Mutter kennen. Das war gleich zu Beginn, als ich in der Firma angefangen habe. Wie du weißt, war sie die Tochter des Firmenchefs und des Leiters der Forschungsabteilung. Sakura war schön, klug, freundlich. Sie war alles, was ich nicht war. Diese ruhige Kirschblüte war alles, was ich mir wünschte, dass sie es wäre. Ich habe mich in sie verliebt.


Ich weiß, das klingt unglaublich und unmöglich. Denn es war falsch. Aber es ist die Wahrheit. Ich habe mich in sie verliebt, auch wenn ich es nicht durfte. Und ich habe Sakura Goto darum gebeten, mit mir auszugehen, obwohl ich es nicht sollte. Sie hat »Ja« gesagt. Denn auch sie hatte sich in mich verliebt.


Ich habe sie geheiratet. Wir bekamen dich. Und wir waren eine Familie. Mit zunehmender Zeit vergaß ich meine Mission. Ich vergaß meine Loyalität. Takumi Goro, ich vergaß auch meine Identität. Ich wurde ein anderer Mensch, ein besserer. Denn ich war glücklich.


Aber das Glück währte nicht lange. Denn die Agency fand heraus, dass ich mich in deine Mutter verliebt hatte. Sie schickten Spione, sie hatten ihre Leute überall. Man war nirgends vor ihnen sicher. Sie fanden heraus, dass ich dich gezeugt hatte. Und auch, dass ich sie verraten hatte. Sie waren wütend, enttäuscht und sie waren rachsüchtig. Sie haben einen Mörder geschickt, der mich töten sollte. Er kam in der Nacht, als du zehn Jahre alt warst. Dieser widerliche Mann brach in unser Haus ein. Er schoss auf mich. Aber er hat deine Mutter getroffen. Verstehst du? Er war es! Und er hat auch auf dich geschossen. Aber du hast dich versteckt und überlebt. Und dann habe ich uns verteidigt.


Wir wurden ins Krankenhaus gebracht und operiert. Wir wurden gerettet. Doch für Sakura war es zu spät. Später fand die Polizei einige Unterlagen. Sie fanden heraus, wer ich war. Und dann haben sie mich im Krankenhaus verhaftet. Sie haben mich beschuldigt, deine Mutter getötet zu haben. Ich habe versucht, ihnen die Wahrheit zu sagen. Immer und immer wieder habe ich ihnen gesagt, ich wäre unschuldig. Aber sie haben mir nicht geglaubt. Nach einer Weile haben sie mir nicht einmal mehr zugehört. Sie haben mich einfach weggesperrt.


Es war schrecklich, was sie mir im Gefängnis angetan haben. Du sollst nur wissen, dass ich während der ganzen Zeit immer nur an dich gedacht habe und daran, wie sehr ich an meiner Familie festhalte und für sie da sein möchte. Für dich. Doch das war mir zu der Zeit leider nicht möglich. Zwanzig Jahre lang war ich im Gefängnis. Takumi Goro, wenn du dies hier hörst, dann bitte ich dich um Verzeihung, dass ich dir nicht früher die Wahrheit gesagt habe. Aber ich habe deine Mutter nicht getötet. Ich war es nicht!

 

Er machte eine Pause und räusperte sich. Dann sprach er weiter.

 

Ich denke viel an dich. Ich habe deine Karriere mitverfolgt. Ich habe über meine Quellen herausgefunden, dass du eine Küchenmaschine entwickelt hast, ein Unternehmen gegründet hast und abwechselnd in Paris und New York lebst. Das gefällt mir! Du bist weltoffen und ein guter Geschäftsmann. Das hast du aus der Familie deiner Mutter. Nur New York musst du von mir haben.


Jetzt möchte ich dich um einen Gefallen bitten, nein, ich muss. Es geht um deine eigene Sicherheit. Ich will nicht, dass sie dir etwas antun. Die Agency kann gnadenlos sein. Du musst einen geheimen Chip finden und ihn zur Agency bringen. Aber das wird nicht so einfach sein, denn der Chip ist in Tokio. Du musst ihn finden und ausgraben. Ich habe dir die GPS-Daten auf der Rückseite des Briefes notiert. Sie führen dich zu dem Chip, der unter der Erde liegt. Sie führen dich dorthin, wo ich den Mörder deiner Mutter vergraben habe. Mein Sohn, du musst die Leiche dieses Mannes ausgraben. Denn den Chip mit den Geheiminformationen habe ich damals in einem seiner Backenzähne versteckt. Mehr kann ich dir nicht sagen.


Du musst ihn herausholen und der Agency bringen! Sie brauchen diese Daten. Und sie brauchen sie jetzt so schnell wie möglich. Das ist keine Bitte. Es ist ein Auftrag. Denn eigentlich sollte ich es tun, doch ich bin zu schwach dafür. Du musst die Aufgabe deines Vaters übernehmen!


Wenn du es nicht machst, dann werden sie dich töten. Vorher werden sie dich noch erpressen und dich öffentlich in den Schmutz ziehen und sie werden dein Unternehmen vernichten. Ganz zu schweigen davon, was sie alles mit dir anstellen werden...


Wenn du eine Frau hast, dann werden sie sie entführen und ihr auch etwas Schlimmes antun. Hast du eine Frau? Hast du Kinder? Eine Familie? ...


Ach, Takumi, wie gern ich dich jetzt sehen würde! Bitte besuch mich, sobald du den Auftrag ausgeführt hast. Bitte lass mich dich ein letztes Mal sehen!


Es tut mir leid. Vernichte diesen Brief und diesen Stick, sobald du die Nachrichten gelesen und gehört hast. Merke dir nur die GPS-Daten und fliege so schnell du kannst nach Tokio, um alles zu erledigen!


An der Hauptpost in der Kirschblütenallee in unserem alten Distrikt wird ein Mann namens »Jack« auf dich warten. Sag ihm nur, dass du das Paket mit dem Geschenk für Takumi bringst. Dann kommt jemand anderes und holt dich ab. Nenn ihm meinen alten Codenamen: »JayBird 7«. Es tut mir leid. Ich weiß, dass du richtig handeln wirst. Du wirst dich nicht schnappen lassen, nicht wahr? Pass auf dich auf!

 

Er atmete schwer. Dann war er fertig und schaltete die Aufnahme aus.

Watanabe starrte auf den blühenden Kirschbaum auf seinem Flachbildschirm. »Er ist verrückt geworden«, murmelte er.  »Vollkommen verrückt!«

Dann stand er auf. Als es an der Tür klingelte, vermutete er Madame de la Gorge. Doch irgendetwas war anders als sonst. Sie klingelte sonst immer mindestens drei Mal und klackerte dann vor der Tür mit ihren Stöckelschuhen herum. Doch jetzt vernahm er keine Schritte und die Klingel hatte auch nur einmal geläutet.


Watanabe schaltete die Kamera neben der Eingangstür an. Anschließend sah er auf dem Bildschirm einen fremden Mann. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, weil er einen Hut trug. Hut und Mantel. So sah ein Auftragskiller aus, dachte Watanabe.

Schnell schlich er zurück zum Schreibtisch. Dort öffnete er die Schublade und holte sein Cleverphone heraus. Er steckte es zusammen mit dem Brief und dem Stick seines Vaters in die Innentasche seines Jacketts, da er jetzt beides nicht mehr schnell genug vernichten konnte. Verdammt, seine Pistole hatte er Pierre ausgeliehen. Watanabe stöhnte leise.


Anschließend kletterte er durch das Schlafzimmerfenster auf die Feuerleiter hinaus. Dort maunzte ihn Simones Kater an, dem er einfach einen Tritt gab. Während der Kater mitsamt Rosinenkuchen vom Balkon stürzte, fiel ein Schuss.





Copyright Bente Amlandt 2024

19.01.2024

 

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