Takumi Goro Watanabe nannte sich nur »T. G. Watanabe«. Das fand er praktischer. Wenn er mit sich allein war und das war er neunzig Prozent des Tages, dann nannte er sich »Watanabe«. Er sprach auch mit sich und sagte: »Watanabe isst Frühstück« oder »Watanabe kocht sich einen schönen Jasmintee«. Es war, als würde das bloße Aussprechen der Tätigkeiten diesen mehr Wert verleihen und Watanabe mehr am Leben sein. Aber manchmal fielen die Worte ungehört zu Boden und nicht einmal er nahm Notiz von ihnen.
Es war im Jahre 2123, als Watanabe sagte »Watanabe sieht keine Nachrichten mehr. « Denn er hatte genug davon. Er schaffte sogar den riesigen Fernseher ab, der eine halbe Wand einnahm und ihn ein Vermögen gekostet hatte. Er schenkte ihn der Nachbarin, die sich gar nicht mehr einbekommen konnte vor lauter Freude. Es war keine leichte Aufgabe, das Gerät aus seinem Loft in ihr Appartement ein Stockwerk tiefer zu schleppen, doch Watanabe kannte die richtigen Leute dafür.
Nachdem sie gegangen waren, stand seine Nachbarin vor ihm im Flur. Wie er es befürchtet hatte, schenkte sie ihm ihren von ihr selbst gelobten, von ihm verabscheuten Rosinenkuchen, den er kurz darauf an die Katze der anderen Nachbarin verfütterte und den diese wiederum auf dem Balkon des Monsieur Principal ein Stockwerk tiefer erbrach. So machten das Katzen in Paris. Und so musste man es machen mit dem Rosinenkuchen von Madame de la Gorge.
Die Rosinen darin waren so dick und hart, dass T. G. Watanabe stets befürchtete, Madame de la Gorge würde die Kakerlaken im Keller von den Wänden pulen, sie zerhacken und trocknen, um sie dann mit einem gekonnten Löffelschwung unter den Teig zu heben. Oder der Kuchen stammte noch aus der Zeit, als ihr Mann noch gelebt hatte. Watanabe wusste es nicht und er wollte es auch gar nicht in Erfahrung bringen.
Er nannte sie »Madame de la Gorge«, weil er ihren echten Namen vergessen hatte. Wenn sie mal wieder vor ihm stand mit Kuchen oder Fragen, dann lächelte er nur, tat wie ein Japaner, der gerade erst vor dem Krieg geflohen war, und verbeugte sich vor ihr, obwohl er das eigentlich schon seit Jahren nicht mehr machte.
Watanabe sah auf die Kathedrale hinaus und seufzte. Dann verließ er Notre-Dame und seine Küche. Er betrat sein hohes, ungemütliches Wohnzimmer aus Beton und Glas, das sich in nichts von einem sterilen Büro oder einer Hotellobby unterschied. Es gab zwei schwarze Ledersofas, einen großen Schreibtisch vor dem bodentiefen Fenster und rechts eine kleine, voll ausgestattete Bar mit zwei knallroten Barhockern davor. Watanabes Schreibtisch war hochmodern und mit noch moderneren technischen Errungenschaften ausgestattet, die auf Befehl ausfahren konnten wie die Gliedmaße eines reptilienartigen Außerirdischen. Kurzum: Watanabes Wohnzimmer wäre ein perfekter Arbeitsraum für einen Börsenmakler gewesen oder er hätte als Kulisse für einen Krimi dienen können, in dem der reiche Geschäftsmann gleich zu Beginn ermordet wurde. Watanabe setzte sich auf sein schwarzes Ledersofa und wartete auf den Mörder.
Er sah die leere Wand an. Es tat gut, keine Nachrichten mehr zu sehen. Und dennoch hatte er eine erhalten, einen Brief, der in der Küche auf ihn wartete.
Nachdem er die Schritte seiner Nachbarin gezählt hatte, stand er wieder auf. Madame de la Gorge trug heute wieder Stöckelschuhe, obwohl er sie mehrfach darum gebeten hatte, das nicht zu tun. Watanabe schüttelte den Kopf und ging zurück in die Küche. Dort sah er den Brief an, als könnte dieser Beine bekommen oder ihn beißen. Aber er rührte sich nicht. Er lag nur da und wollte gelesen werden oder auch nicht. Nein, er wollte gar nichts. Er war schließlich nur ein Stück Papier aus einer sehr fernen Welt. Es war kein japanisches Papier, obwohl der Brief aus Japan kam. Das heißt: Vermutlich war es kein japanisches Papier. Watanabe untersuchte es. Er hob den Brief hoch, hielt ihn gegen die Deckenlampe, konnte aber nichts Besonderes erkennen. Nur seine eigene Adresse, ganz altmodisch in Schreibschrift geschrieben.
Wer schrieb denn im Jahre 2123 noch Briefe? Es war fast, als hätte er ein antikes Geschenk erhalten. Oben links stand auch »Watanabe«. Diesen Brief hatte sein Vater geschrieben. Ob er noch lebte? Oder ob es eine seiner letzten Handlungen gewesen war, diesen Brief zu schreiben? Was auch immer er enthielt, es konnte nichts Wertvolles sein, denn sein Vater hätte es per Sicherheitspost an das Büro von Watanabe geschickt. Aber er hatte es an seine Privatadresse geschickt, und das war merkwürdig, denn es war nicht leicht, die Privatadresse von T. G. Watanabe herauszufinden, dafür hatte er gesorgt. Wie hatte sein Vater also die Adresse herausbekommen? Hatte er jemanden bestochen? Einen Detektiv auf ihn angesetzt?
Sogar die Hausnummer des Lofts stimmte. Und er hatte seinen Namen ausgeschrieben. Das machte hier niemand, hier kürzten sie ihn alle ab. Er hatte ihn schreiben lassen, dachte T. G. Watanabe nun. Denn sein Vater beherrschte zwar Hiragana und Katakana, auch Kanji, aber keine Schriftzeichen, die mit dem römischen Alphabet gebildet wurden.
»An Takumi Goro Watanabe«. Damals hatte er auch immer beide Namen ausgesprochen »Takumi« und »Goro«. Als er zehn Jahre alt gewesen war, hatte sein Vater ihm erklärt, dass »Takumi« der Zimmermann und »Goro« der fünfte Sohn bedeutete. Da Takumi Goro Watanabe weder Handwerker noch fünfter Sohn war, hatte der Name keinerlei Bedeutung für ihn. Er hätte lieber »Paul Schmidt« oder »Peter Berg« geheißen oder einen anderen europäischen oder amerikanischen Namen gehabt.
Er stand vor dem Brief. Dieser rief ihm zu, er sollte sich setzen. Er sollte ihn lesen. In Ordnung.
»Was willst du?«, grummelte Watanabe.
Was konnte ihm sein Vater nach all dieser Zeit noch sagen? Warum hatte er ihm einen Brief geschrieben? Watanabe zögerte, den Brief zu öffnen, denn er hatte Angst, mit dem Aufreißen des Umschlags auch alte Wunden aufzureißen. Er befürchtete, dass dieser Brief ihm nichts Neues sagen würde oder dass er ihm etwas mitteilen würde, was sein Leben auf einen Schlag verändern könnte.
Er fragte sich, ob das schlimm wäre. Seine eigene Firma lief besser ohne ihn. Er hasste die meisten Menschen, Menschen überhaupt. Und er vegetierte hier vor sich hin, nicht anders als der struppige Kater von Simone. Auch ihm brachte man Essen. Nur streichelte ihn niemand.
Jetzt holte er tief Luft und schob das Küchenmesser unter die rechte Lasche. Er schnitt so vorsichtig, als würde er eine gefährliche Operation vornehmen. Dann zog er aufgeregt ein vergilbtes Blatt Papier und einen kleinen flachen Datenstick heraus. Der Brief war in einer krakeligen Handschrift geschrieben. Watanabe begann zu lesen.
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