13. Wäsche
- 30. Jan. 2024
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juni

»Ist er tot?«, fragte Oumu ungläubig. »Ist er jetzt tot? Dieser Mistkerl. Er hat auf mich geschossen!« Ihre Stimme klang wütend und überschlug sich fast. Sie umklammerte die Waffe in ihrer zitternden Hand.
»Ja, er ist tot«, antwortete Watanabe leise. »Du hast ihn erschossen.« Der Moment kam ihm völlig unwirklich vor, surreal.
Oumu versuchte, sich zu beruhigen, aber es schien ihr nicht zu gelingen. »Am Empfang hat er auf mich geschossen! So etwas macht man nicht!«, rief sie aufgebracht. »Nicht mit mir! Ich kann mich wehren! Geht es Ihnen gut, Herr Watanabe?«
»Ja, Oumu. Beruhige dich«, antwortete er und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen.
»Kannst du ihn hier rausbringen? Du bist sicher stark genug dafür.«
Oumu nickte. Sie näherte sich dem leblosen Körper. Ihre Scharniere quietschten leicht, als sie den schweren Körper des Japaners packte und scheinbar mühelos zu ziehen begann. »Wohin?«, fragte sie. »In den Müll?«
Watanabe zögerte kurz und nickte dann. »Ja, das ist im Moment die einzige Lösung. Ich muss gleich weiter. Es gibt Wichtiges zu tun. Aber sei vorsichtig, Oumu. Hier wimmelt es von komischen Typen.«
»Soll ich noch mehr erschießen?«
»Nein. Erst wenn sie eine Waffe auf dich richten, musst du deine Waffe erheben. Aber du darfst nicht zuerst schießen, Oumu!«
»Das habe ich auch nicht!« Sie ließ den Japaner los und zeigte Watanabe ein Loch in ihrer Bluse. »Hier! Und wäre ich nicht aus Metall darunter, wäre ich jetzt tot!«
Watanabe ersparte es sich, Oumu darauf hinzuweisen, dass sie eine KI und kein Mensch war und dass es verrückt klang, was sie da sagte.
Oumu steckte ihre Pistole wieder in die Schürzentasche ihrer klassischen schwarz-weißen Kellnerinnenuniform und legte ein Laken über den Toten.
»Jetzt sieht er aus wie Wäsche. Ich stopfe ihn gleich in den Wäschewagen und bringe ihn raus. Hoffentlich sucht ihn niemand.«
Watanabe nickte. »Oumu, warte! Leihst du mir deine Pistole?«
Wieder ließ sie die Leiche samt Laken fallen.
»Was? Und wie soll ich mich dann verteidigen?«
»Schlag einfach mit deiner Eisenhand zu! Verdammt, Oumu, du stirbst nicht, wenn jemand auf dich schießt, aber ich schon. Bitte gib sie mir! Ich leihe sie mir nur kurz aus und gebe sie dir dann gleich zurück.«
»Und wenn du erschossen wirst? Dann sehe ich mein schönes Gewehr nie wieder.«
»Doch das wirst du. Außerdem ist es kein Gewehr, sondern eine Pistole. Und wenn du sie mir gibst, werde ich nicht erschossen und kann sie dir zurückgeben.«
Das leuchtete Oumu ein und daraufhin gab sie Watanabe die Pistole. Er steckte sie sich
hinten in den Hosenbund. So hatte er es in Filmen gesehen. Es fühlte sich komisch an und er fragte, ob er sie schnell genug ziehen könnte. Aber an der Seite oder vorne würde man sie zu schnell sehen. Jetzt lauschte er an der Tür zum Hotelflur.
»Du kannst noch nicht rausgehen. Da sind Leute im Flur«, sagte er zu Oumu.
Aber sie schüttelte den Kopf. Dann drückte sie den Knopf für den Feueralarm. »So macht man das!«, sagte sie zu Watanabe, was in seinen Ohren jetzt triumphierend klang. Sofort ertönte der schrille Feueralarm. Es war ohrenbetäubend, und wenn Watanabe nicht schon überall Schmerzen gehabt hätte, wäre er jetzt ausgeflippt. Eine Sirene mehr und kaputte Ohren, das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Hauptsache, Oumu brachte den Toten schnell hier raus.
Nun wurden die Türen aufgerissen und die Hotelgäste stürmten aufgeregt nach unten. Watanabe blickte kurz zurück. Sie hatten freie Bahn. »Warte!«, sagte er geistesgegenwärtig, denn ihm fiel ein, dass sie, wenn sie schon eine Leiche hier rausschleppten, auch gleich den Schädel mitnehmen könnten. Also schnappte er sich einfach den Mülleimer und legte ihn auf den Bauch des Japaners, bevor er das Laken erneut darüber wickelte.
Oumu beschwerte sich: »Nein, so geht das nicht! Der gute Mülleimer bleibt hier!«
Watanabe stöhnte. Dann öffnete sie das Laken und bückte sich, um den »guten Mülleimer« wieder unter den Tisch zu stellen, als der Schädel herausrollte und genau vor Oumus Füßen liegen blieb. Sie starrte ihn eine gefühlte Sekunde lang an, dann begann sie zu schreien, was aufgrund des nicht enden wollenden Alarms ohnehin nicht zu hören war.
Schließlich hob sie ihn auf und hielt ihn Watanabe vorwurfsvoll unter die Nase. »Wo hast du den her? Hast du den umgebracht? Gib mir sofort meine Waffe zurück!«
»Oumu, ich bitte dich! Komm, hilf mir lieber!«
Nun lief Watanabe in den Flur, um den großen Wäschewagen zu holen. Er zerrte an dem Toten, bekam ihn aber nicht hoch. Verzweifelt blickte er zu seiner Komplizin. Doch Oumu stand nun mit erhobenem Totenschädel im vibrierenden Flurlicht und schien einen theatralischen Dialog von KI zu Totenkopf zu führen.
Es war nicht zu fassen, dachte Watanabe. Das war noch ein Bild, das ihn nicht mehr loslassen würde. Dabei hatte ihm der Anblick des Toten schon gereicht. Jetzt riss er Oumu den Schädel aus der Hand, warf ihn in den Wäschesack und forderte sie auf: »Du musst mit anfassen, sonst kriege ich ihn nicht hoch.«
Immer noch schimpfend half sie ihm. Mit einem kräftigen Ruck ihrer Arme schaffte sie es, den Japaner in den Sack zu stopfen. Ab jetzt konnte er sich auf sie verlassen, sagte sich Watanabe, obwohl er sich da nicht so sicher war.
Nun schob er noch den Wäschewagen mit ihr zum Aufzug. Dann fuhren sie in den Keller. Während er neben Oumu stand, sah er immer wieder zu ihr hoch, aber sie blickte nur auf die leuchtenden Nummern der Stockwerke. »Oumu, ich …«
»Sie still! Du hast mich belogen! Du bist ein Krimineller.«
»Nein, das bin ich nicht. Wirklich nicht. Und warum duzt du mich eigentlich auf einmal?«
»Weil du auch nur 'Oumu' sagst. Nun lenk nicht vom Thema ab! Warum wollte dieser Kerl dich erschießen? Was hast du ihm angetan?«
»Ich ihm? Also, das ist doch die Höhe! Du hast doch gesehen, wie irre der war! Er hat sogar auf dich geschossen an der Rezeption.«
Sie waren im Keller angekommen. Er half ihr, das schwere Bündel Laken in einen der Container zu befördern, während Oumu noch weiter mit ihm diskutieren wollte. Er hatte aber weder Lust noch Zeit dazu. »Wann wird das abgeholt?«, fragte er und deutete auf den Container, obwohl vollkommen klar war, wovon er sprach.
Sie zuckte mit den Schultern. »Freitag.«
»Morgen? Das ist gut. Oumu, ich muss los.«
»Natürlich musst du das. Du willst bestimmt noch ein paar Leute umbringen. Du bist nur so nett zu mir, weil ich kein Mensch bin. Sonst hättest du mich vielleicht auch schon getötet.«
Das konnte doch nicht wahr sein, dachte Watanabe. Jetzt lief er durch die Tiefgarage nach draußen.
Oumu rief ihm hinterher: »Wenn du nicht bis um Punkt acht wieder hier bist, dann melde ich das der Polizei. Das alles hier! «
»Tu, was du nicht lassen kannst!«, grummelte Watanabe und stürmte weiter nach draußen. Dort stieß er auf eine Traube von Menschen. Sie diskutierten, schimpften und einige trugen nur ihre Bademäntel. Einer meinte, Rauch zu sehen, ein anderer sagte, die Feuerwehr würde bald da sein, und als Watanabe schon am Eingang des »Kuroi Yoru« vorbeiging, hörte er wieder andere, die erkannt hatten, dass es sich nur um einen Fehlalarm handelte.
Watanabe griff sich an die Brust. Das Cleverphone war da. Und er fühlte den Revolver hinten am Hosenbund. Alles war in Ordnung. Er ging weiter. Und er trug seine bequemen Turnschuhe, auch wenn sie nicht mehr weiß waren, er liebte diese Schuhe. Er bildete sich ein, dass sie ihm jetzt Kraft gaben.
Watanabe wollte gar nicht nachsehen, wie viele Schrammen und blaue Flecken er von dem Kampf davongetragen hatte. Gefühlt waren es mindestens zwanzig. Dann dachte er nur noch an den Agenten Jack, den er immer noch nicht getroffen hatte, und an die Hauptpost. Er musste endlich diesen verdammten Chip loswerden.
Als er die Straße nach links hinunterging, fiel sein Blick auf das grell beleuchtete Waschsalon-Schild, das über der Wäscherei hing und den Schriftzug »Hauptpost« trug. Er betrat das Geschäft und wurde von einer lebhaften Szene begrüßt.
Umgeben von quietschenden Waschmaschinen und waberndem Wäscheduft sah er viele Menschen, die sich hier versammelt hatten. Hektisch arbeitende Japanerinnen in schlichten Schürzen waren damit beschäftigt, Wäsche in die Maschinen zu laden und nervös auf die Uhren zu blicken. Ein älterer Japaner mit faltigem Gesicht stand am Eingang und sortierte eine große Menge an Kleidungsstücken in Plastiktüten. Mit geübten Handgriffen faltete er die Kleidung zusammen und legte sie ordentlich in die Tüten, die er dann auf einem kleinen Wagen stapelte. Eine Gruppe von jungen Studenten lachte und plauderte in einer Ecke, während sie ihre Wäsche sortierten. Sie schienen entspannt zu sein und genossen die Abwechslung von ihren sonst so stressigen Studien.
Die Wände des Waschsalons waren mit bunten Postern und Werbeplakaten bedeckt, die für verschiedene Waschmittel und Reinigungsprodukte warben. Ein großer Spiegel an der Wand vermittelte ein Gefühl von Geräumigkeit und Reflexion.
Watanabe beobachtete die Szene eine Weile, während er sich langsam durch den Raum bewegte. Er versuchte, unauffällig zu bleiben und seine Umgebung im Auge zu behalten. Sein Blick schweifte über die Reihen der Waschmaschinen, die friedlich vor sich hin ratterten und dabei eine beruhigende Atmosphäre schufen.
Er bemerkte eine Gruppe älterer Frauen, die an einem Tisch saßen und angeregt miteinander plauderten, während sie ihre Handarbeit erledigten. Ihr fröhliches Geplapper und das Klappern der Stricknadeln bildeten einen angenehmen Kontrast zu der geschäftigen Energie des Waschsalons.
Nun sah er sich weiter um, immer auf der Hut und bereit, auf jede noch so kleine Veränderung in seiner Umgebung zu reagieren.
Schließlich entdeckte er hinter der Kasse einen Mann mit einer Schirmmütze. Auf der Mütze stand allen Ernstes »Jack«. »Das war zu einfach«, dachte Watanabe. Erleichtert, ihn identifiziert zu haben, ging er auf ihn zu. Beim Näherkommen vermutete er aufgrund der Physiognomie, dass es sich um einen Chinesen handelte.
Aufgeregt flüsterte er: »Guten Tag, ich möchte das Geschenk für Takumi abgeben.«
Der Mann hob den Kopf und fixierte Watanabe mit seinen dunklen, durchdringenden Augen. Ein Hauch von Misstrauen lag in seinem Blick, aber als er offensichtlich das Codewort, den Satz, begriffen hatte, entspannte sich sein Gesichtsausdruck wieder und er lächelte leicht. Dann begrüßte er Watanabe überraschenderweise nicht auf Japanisch, sondern auf Englisch. Er sprach so gut, dass Watanabe annahm, er hätte viele Jahre in den USA gelebt oder stammte sogar von dort.
Er hielt ihn für einen ungefähr siebzig Jahre alten Mann mit chinesischen Wurzeln, der offensichtlich ganz vernarrt in amerikanische Kleidung mit Aufdrucken und Schriftzügen war. Jetzt stand er auf, um jemanden für die Kasse zu holen. Watanabe ahnte, dass es wohl doch nicht so schnell über die Bühne gehen würde, wie er erhofft hatte.
Hatte dieser Typ überhaupt etwas mit der Agency zu tun? Hatte er ihn richtig verstanden? Nicht, dass er dachte, Watanabe wollte Drogen kaufen oder sich mit einem Mädchen verlustieren. Er sah sich um. Hier war doch alles möglich!
In diesem Moment kam ihm jede Person in diesem Waschsalon verdächtig vor, ob sie nun lachte, auf ihrem Handy las, telefonierte oder einfach nur dasaß und wartete, alle waren verdächtig und jede ihrer Handlungen schien nun etwas mit der Agency oder dem japanischen Geheimdienst zu tun zu haben. Er schwitzte. Er drehte wohl so langsam durch. Ruhig, Watanabe, ruhig! Work Watanabe! ... Außerdem hatte er Schmerzen. Der Adrenalinschub ließ nach und er begann zu frösteln. Verdammt, war das kalt hier!
Der Chinese war jetzt in eine andere Ecke gegangen, angeblich um jemanden für die Kasse zu holen. Vielleicht rief er jetzt auch Watanabes Killer. Jetzt sah er ihn an der Kaffeemaschine stehen. Was zum Teufel machte er da? Na toll, er hatte die Ruhe weg! stöhnte Watanabe. Immer mehr Leute sahen nach draußen. Auch er wunderte sich. Der Wind peitschte die Palmen westwärts. Es begann zu regnen. Obwohl er von hier aus den Himmel nicht sehen konnte, sah er jetzt die Passanten auf der Straße laufen, und eine Frau, die immer noch nach oben blickte, schien beim Anblick der schwarzen Wolkenfront entsetzt zu sein. Es ging wieder los. Wenn es noch schlimmer werden würde, dann könnte es doch schon der Taifun sein, der erst in zwei Tagen über das Land fegen sollte.
Endlich kam der Alte mit zwei Kaffeebechern in der Hand zurück. »Den gebe ich aus«, nuschelte er. »Wir gehen jetzt da rein!« Er deutete mit dem Kopf auf eine gelbe Tür, auf der eine Zielscheibe mit Dartpfeilen hing.
Konnte es noch schlimmer werden? Watanabe nahm ihm einen der Plastikbecher ab und hätte sich fast die Finger verbrannt. Er stellte ihn fluchend auf den Tisch, nahm dann eine Serviette und hob ihn damit erneut an. Jack schien Hornhaut an den Fingern zu haben. Während der Chinese die Tür aufschloss und ein junger Mann an der Kasse Platz nahm, roch Watanabe an dem Automatenkaffee und verzog sein Gesicht. Ja, offensichtlich konnte es noch schlimmer werden!
Sie gingen hinein. Nachdem Jack in aller Seelenruhe seinen Kaffee abgestellt und die Tür geschlossen hatte, nahm er die Schirmmütze kurz ab und verbeugte sich. »Jack! «, sagte er.
Watanabe verbeugte sich und sagte dann: »Hör zu, ich weiß, wer du bist. Sonst wäre ich nicht hier. Und du weißt auch, wer ich bin. Also, was nun? Warten wir hier auf jemanden?«
»Du bist ungeduldig. Das ist nicht gut. Das ist nie gut. Aber dein Vater war auch so. Immer schnell, immer drauflos. Sammy, habe ich gesagt, nicht so schnell! Immer mit der Ruhe! Aber er hat nicht auf mich gehört.«
»Hören Sie, Sie verwechseln mich, glaube ich. Mein Vater heißt nicht Jay… « Watanabe stockte, als ihm einfiel, dass dies der Codename seines Vaters war. Dann sprach er weiter: »Ich bin jedenfalls nicht hier, um mit Ihnen über alte Zeiten oder meine Familie zu sprechen. Ich möchte hier das Geschenk für Takumi abgeben.«
»So? Und wo ist es? Das Geschenk?«
Jack grinste. Watanabe war nun vollkommen verwirrt. Meinte er den Chip oder wollte er nun ein echtes Geschenk sehen? So langsam reichte es ihm jetzt. Er schüttelte den Kopf und drehte sich zur Tür.
»He! Das war nur Spaß! Nur ein Scherz! Kommen Sie, setzen Sie sich!«, rief Jack.
Watanabe nickte. Er befürchtete, wenn er sich jetzt setzte, dann könnte er gar nicht mehr aufstehen. Aber da er auch nicht ins Hotel wollte, in dem nun vermutlich einige Feuerwehrleute mit Oumu diskutierten, beschloss er zu bleiben.
Der Raum war klein und spärlich eingerichtet. Eine einfache Holzbank stand auf der anderen Seite an dem Tisch, auf dem sich einige Papierstapel und ein abgenutztes Laptop befanden. An den Wänden hingen einige Landkarten und Bilder, aber ansonsten war der Raum leer und wirkte fast wie ein Versteck.
Jack bedeutete Watanabe, sich auf die Bank zu setzen, bevor er selbst auf dem Bürostuhl Platz nahm. Er zog das Laptop zu sich heran und öffnete es, anscheinend, um nach Informationen zu suchen. In der Zwischenzeit war Watanabe sich immer noch nicht sicher, was für ein Spiel hier gespielt wurde. Sein Blick wanderte an die Zimmerdecke und in die Ecken des Raumes. Er fragte sich, ob der rote, gewölbte Punkt in der Mitte des großen alten Ventilators an der Decke ihn jetzt filmte.
»Gib mir dein Cleverphone!«
»Bitte?«
»Das kennst du doch wohl. Ich muss deine Identität überprüfen.«
»Ach ja, natürlich.« Watanabe ärgerte sich darüber, dass dieser Mann ihn so schroff behandelte, als wäre er ein dahergelaufener Botenjunge. Nun, vielleicht lag es daran, dass er das in diesem Moment wohl auch wirklich war. Er sagte: »Ich bin Takumi Goro Watanabe.«
»Das kann ja jeder sagen! Gib dein Phone, öffne den Identitätsausweis.«
Watanabe zog widerwillig sein Cleverphone aus der Jacke und reichte es ihm. Als er sich wieder zurücklehnen wollte, spürte er den Revolver nicht mehr an seinem Hosenbund. Verdammt. Er griff danach. Dann drehte er sich um und suchte nach der Waffe. War sie ihm herausgefallen?
Er wollte gerade aufstehen, als Jack sagte: »Du glaubst doch nicht, dass du hier einfach so mit einem Revolver reinspazieren kannst, oder? Cola-Ken hat ihn dir abgenommen. Keine Sorge, du kriegst ihn später wieder.«
Das gefiel Watanabe nicht. Oumu würde ihm die Hölle heißmachen. Außerdem waren momentan bestimmt zig Leute hinter ihm her. Die Amerikaner und die Japaner und wenn er Pech hatte, gesellten sich noch mehr Agenten des ehemaligen Europas dazu.
Jetzt wartete er darauf, dass Jack endlich die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen traf, um sicherzugehen, dass er wirklich Takumi Goro Watanabe war. Ein leises Klicken ertönte, als Jack eine Datei öffnete. Er drehte den Laptop zu Watanabe und zeigte auf einen Kartenausschnitt. »Hier ist der Treffpunkt, an dem du das Geschenk für Takumi abgeben musst«, sagte er und deutete auf Funabashi, eine Stadt in der Präfektur Chiba, etwa 20 Kilometer östlich von Tokio.
Er erklärte: »Du musst ins Stahlwerk gehen, in den Anbau der ersten Halle. Hier siehst du das?« Watanabe nickte.
Jack fuhr weiter in perfektem amerikanischen Englisch fort: »Es gibt mehrere Möglichkeiten, von Tokio nach Funabashi zu kommen. Die schnellste und billigste ist die Sōbu-Schnellbahn. Die Fahrt dauert ungefähr 22 Minuten. Oder man nimmt die Tōzai-Linie. Das dauert länger, aber es geht auch.«
»Ich werde ein Lufttaxi nehmen«, sagte Watanabe.
»Das glaube ich kaum«, sagte Jack. »Ein Taifun ist im Anmarsch.«
Watanabe war mit seinen Gedanken ganz woanders. »Warum kann ich das 'Geschenk' nicht einfach hierlassen? Das wäre doch viel einfacher.«
»Für dich vielleicht, aber nicht für uns. Es herrscht gerade höchste Alarmstufe. Wir werden diesen Treffpunkt am Wochenende auflösen.«
Er sah Watanabe an und grinste schief. »Die Japaner sind einfach überall in Tokio. Wenn du verstehst, was ich meine.«
»Klar.« Watanabe lächelte und warf den Ball zurück. »Ich schätze, damit muss man in Tokio immer rechnen, Jack.«
Dieser hustete. Dann trank er einen Schluck von dem scheußlichen Kaffee aus dem Plastikbecher. Er fügte hinzu: »Eigentlich sollte er abgeholt werden. Aber die Kontaktperson ist noch nicht da. Du bist einen Tag zu früh.«
»Richtig. Aber im Brief stand 'spätestens' Freitag, also dachte ich …« Watanabe verstummte. Er merkte, dass es keinen Sinn hatte, seine Energie in so ein Gespräch zu stecken, er musste jetzt einfach tun, was Jack sagte, auch wenn er unter normalen Umständen nicht ein einziges Wort mit diesem Mann gewechselt hätte. Er wäre auch nie in seinem Leben in diesen Waschsalon, geschweige denn überhaupt in dieses Viertel Tokios gegangen. Was freute er sich auf seine beiden Ledersofas und die schöne weiße Wand zu Hause! Was freute er sich auf Notre-Dame und Paris!
Er betrachtete den Kartenausschnitt und prägte sich die »Higashi-Funabashi-Station« ein. Anschließend nickte er und dankte Jack für die Information. Er stellte sicher, dass er alle Details im Kopf hatte und versprach, das 'Geschenk' dort abzugeben. Dabei schimpfte er innerlich mit sich, weil er viel zu freundlich zu diesem Kerl war. Er hatte sogar einen Schluck von dem grässlichen Kaffee getrunken.
Nachdem er den Raum verlassen hatte, war er erleichtert, sein Cleverphone und dank einer einzigen Handbewegung hinter seinem Rücken auch Oumus Revolver wieder bei sich zu haben. Wenigstens war auf Cola-Ken Verlass!
Wieder inmitten des geschäftigen Waschsalons, bahnte er sich einen Weg durch die Menschenansammlung. Er versuchte, so unauffällig wie möglich zu sein und seine Umgebung wachsam im Auge zu behalten, was gar nicht so leicht war, weil er auf einmal sehr erschöpft war.
Der Duft von frisch gewaschener Wäsche hing in der Luft und das monotone Rattern der Waschmaschinen bildete einen gleichmäßigen Geräuschpegel. Die Wände des Waschsalons schienen sich immer enger um ihn herum zu schließen, während er durch die Gänge navigierte wie ein Betrunkener. Hatte der Alte etwas in den Kaffee getan?
Bunte Werbeplakate und Hinweisschilder zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, während er nach Ausgängen und möglichen Fluchtrouten Ausschau hielt. Wo war er? Wo wollte er hin?
Eine Frau stand vor der Tür. »Lassen Sie mich raus! «, bat er sie matt.
»Nein.«
»Bitte, lassen Sie mich raus, jetzt!« Watanabe wurde lauter und wollte die Frau beiseiteschieben, als sie ihm auswich und sagte: »Bitte! Auf Ihre Verantwortung! Sie sind verrückt, wenn Sie da jetzt rausgehen!«
Watanabe riss die Tür auf und wurde fast vom Sturm umgerissen. Es war ihm egal. Er wollte jetzt zurück ins Hotel, Sachen packen und dann nichts wie weg hier. Er war fertig mit Tokio.
geschrieben von Bente Amlandt am 30.01.2024
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