12. Takumi
- 29. Jan. 2024
- 11 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juni

Watanabes Herz klopfte wie wild, als er den kleinen Chip in seinem Hotelzimmer aus dem Zahn zog. Er betrachtete ihn und stellte fest, dass er in kein handelsübliches Notebook passte. Also nahm er sein Cleverphone und begann mit den akribischen Vorbereitungen. Er holte eine Pinzette aus dem Bad und legte sie auf den Tisch. Dann griff er vorsichtig an den Rand des Telefons, um das Gehäuse zu öffnen. Anschließend inspizierte er das elektronische Innenleben seines Cleverphones. Er achtete auf die kleinen, aber entscheidenden Details, damit der Chip genau an die vorgesehene Stelle passte. Dabei musste er die Position des Chips, die Platine im Inneren und die Kontaktstifte genau berücksichtigen. Mit geschultem Auge erkannte Watanabe die winzigen Lötstellen, die den Chip fest mit der Platine verbanden.
Nun begann der knifflige Teil der Operation: die Anpassung des Datenchips an die vorhandene Technik im Cleverphone.
Mit äußerster Präzision griff Watanabe zur Pinzette, um das Innere so vorzubereiten, dass der Datenchip darin Platz finden würde. Er entfernte kleine Widerstände, um Platz zu schaffen und die elektronische Stabilität des Geräts zu gewährleisten. Nach dieser Feinarbeit war es endlich so weit: Vorsichtig schob Watanabe den Datenchip in die dafür vorgesehene Aussparung und fixierte ihn mit winzigen Klammern, die er zuvor aus dem Draht einer kleinen Hotelfahne gebogen hatte. Dann klappte er das Cleverphone wieder zu und überprüfte jede einzelne Verbindung, ob auch alles perfekt saß. Zufrieden betrachtete Watanabe sein Werk. Tja, wer sagte es denn?! Er war eben Takumi, der Handwerker!
Das Cleverphone sah ganz normal aus. Niemand würde vermuten, dass es einen solchen Chip enthielt. Er hatte schon immer großen Wert auf Sicherheit gelegt und ein Vermögen für sein Phone ausgegeben, um es abhörsicher zu machen. Nun stellte sich heraus, dass es sich aus seiner Sicht um ein echtes »Agentenhandy« handelte, das ihm dank seiner Geschicklichkeit auch noch sehr nützlich war.
Er klickte auf dem Display herum, bis er die Verbindung zum eingelegten Chip gefunden hatte und die Datei seltsamerweise mühelos öffnen konnte: Was war das? Warum war sie nicht passwortgeschützt? Das war merkwürdig. Er wunderte sich, dass er sofort alle Dokumente einsehen konnte. Vielleicht war das Passwort vorsichtshalber entfernt oder entschlüsselt worden, damit die Agency die Informationen einsehen konnte. Trotzdem war es untypisch und seltsam.
Watanabe dachte nun, dass der Chiphersteller seiner Zeit weit voraus gewesen sein musste, denn immerhin war dieses kleine Speichermedium vierzig Jahre alt. Er hatte großes Glück gehabt, dass es so tief im Zahn eingearbeitet gewesen war und dass dieser Zahn auf Zahn auf der oberen Schädelreihe gesessen hatte, sodass die Regenfluten Tokios den Chip wie durch ein Wunder nicht erreicht hatten. Ja, auch sein Vater Hiroshi war ein guter Handwerker.
Er sah sich die Zahlenkolonnen genauer an. Jetzt erblickte er zwei Tabellen: 1. positiv: freundlich, ehrlich, mutig, kreativ, hilfsbereit / 2. negativ: gemein, unehrlich, feige, langweilig, egoistisch. Darunter ging es weiter: Grundgefühle: Freude, Trauer, Angst, Wut, Ekel, Überraschung, Verachtung / Positive Gefühle: Glück, Liebe, Zufriedenheit, Hoffnung, Stolz, Dankbarkeit / Negative Gefühle: Schmerz, Hass, Frustration, Angst, Scham, Schuld, Neid / Gemischte Gefühle: Erleichterung, Nostalgie, Mitleid, Ironie, Sarkasmus.
Was war das? Eine Abhandlung über menschliche Gefühle? Watanabe runzelte die Stirn. Er scrollte weiter. Darunter sah er nun Abkürzungen, die auf »X« oder »S« endeten. Mit diesen Buchstaben endeten normalerweise die Namen der KI-Modelle.
Erst jetzt begriff Watanabe, worum es hier ging: Natürlich! Hier wollte jemand eine KI mit möglichst menschlichen Zügen erschaffen. Ein »Verdammt!«, entfuhr ihm, obwohl er sich das Fluchen eigentlich abgewöhnen wollte. Aber jetzt war er allein. Zum Glück. Trotzdem hätte er in diesem Moment am liebsten Tatsuo angerufen und ihm alles erzählt.
Auf dem Display erschienen plötzlich unzählige Zahlenreihen und Codes. Er las »KI« und »AI«. Das hatte er nicht erwartet. Er hatte an Waffen gedacht. Aber diese Informationen waren vielleicht noch brisanter in einer Zeit nach dem diplomatisch besiegelten Cyberkrieg. Sie könnten eine neue Krise auslösen, nicht mehr über das Verbot oder die Zulassung von KI, sondern über den Wettbewerb zwischen den USA und Asien.
Plötzlich war auch Text zu lesen:
Um eine Künstliche Intelligenz (KI) zu schaffen, die möglichst viele menschliche Züge aufweist, sind verschiedene Ansätze und Techniken erforderlich: Die KI benötigt ein breites Spektrum an Daten aus verschiedenen Quellen, um Sprache, Mimik, Gefühle, Kontext, Bedeutung, Ironie, Witz, gesellschaftliche Werte, Normen und Regeln, aber auch persönliche Werte, individuelle Stimmungen und vieles mehr zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Mit den gesammelten Daten und der hoch entwickelten Robotertechnologie wird es dem Unternehmen Goto-X-SF in Zusammenarbeit mit W. B. Anderson-Motors in den nächsten zwei Jahrzehnten gelingen, KI-Modelle zu entwickeln, die menschlicher sind als manche Menschen.
Sollte das ein Witz sein? Watanabe war fassungslos über das, was er da las. Die Firma seines Vaters stellte tatsächlich Künstliche Intelligenz her? Und das schon so viele Jahre? Warum hatte er davon nichts gewusst? Immer wieder hatte er im Internet nachgeschaut, wie es um die »Goto« stand. Er war davon ausgegangen, dass sie sich wie eh und je auf die Herstellung von Maschinen, Rohren und Industrieteilen spezialisiert hatte. Zuletzt, als er sich mit seiner aufbrausenden französischen Freundin Ines so heftig über seinen vermeintlichen Waffenfabrikanten-Vater gestritten hatte, hatte er sogar einen seiner Angestellten beauftragt, alle nur erdenklichen Informationen über die Firma zu sammeln, weil er sie angeblich für ein neues europäisches Werbeprofil für die Firma seines Vaters bräuchte. Die umfangreichen Recherchen hatten nichts als Rohre, Motorenteile, Kolben und vieles mehr ergeben, aber keine KI. Diese war lediglich in vielen Arbeitsprozessen in der Firma vorhanden, aber kein Produkt des Unternehmens.
Ihm war klar, dass er den Chip und damit sein Cleverphone jetzt so sicher wie möglich aufbewahren musste. Er steckte es in die Innentasche seines Anzugs. Leider hatte sie keinen Reißverschluss. Das gefiel ihm nicht. Das war nicht gut genug. Wenn jemand das Telefon stahl oder er es verlor, dann hatte er nichts. Nichts für die Agency und auch keine Lebensversicherung für sich. Also holte er das Telefon erneut heraus und beschloss, eine zweite Operation durchzuführen. Er wollte eine Kopie anfertigen. Watanabe kramte in sämtlichen Jackentaschen nach einer Speicherkarte. Auch in seiner Brieftasche suchte er. Er war sich sicher, eine dabei gehabt zu haben. Vergeblich. Er stöhnte und setzte sich erneut aufs Bett. Da fiel sein Blick auf den Fernseher.
Er stand auf und betrachtete das Gerät. Es war ein Jazu-T-45X, der auf der Rückseite einige Öffnungen für Speichersticks und Speicherkarten hatte. Nachdem er die staubige Rückseite des Geräts durchsucht hatte, wurde er fündig und freute sich wie ein Kind über den Hauptgewinn. Denn Watanabe entdeckte eine Karte, die ein Gast vergessen hatte. Da es sich um ein neueres Modell handelte, passte die Speicherkarte perfekt in sein Cleverphone. Obwohl es ihm sehr zuwider war, fremde Datenträger in sein heiliges Telefon zu stecken, so hatte er jetzt keine Zeit zu verlieren und noch einmal durch die anstrengende Einkaufsstraße zu laufen, dazu würden ihn jetzt keine zehn Pferde bringen.
Als er die Datei öffnete und nur nackte Menschen sah, die sich verrenkten, atmete er genervt auf. Das war klar. Er löschte den Inhalt und kopierte die Dateien mit den Geheiminformationen auf den Stick. So. Und wohin damit? Etwas verzweifelt und auch angewidert blickte er auf das Speichermedium, das erst im Fernseher und dann in seinem Handy gesteckt hatte. Schlucken? Sollte er den Chip schlucken? Nein, das war zu widerlich. Und wenn man bedachte, was vorher auf dem Stick gewesen war, ekelte es ihn jetzt noch mehr, als ob der arme Stick etwas dafürkönnte.
Er sah nach draußen. Dort blinkten wieder die Leuchtreklamen. Jetzt musste er an Tatsuo denken und plötzlich auch an Cheryll. Sie hatte die Watanabe-Express gelobt. Ja, das war es! Er würde sich eine seiner eigenen Küchenmaschinen kaufen und den Stick dort einbauen. Schließlich kannte er jedes Detail, jede Schraube seiner »Watanabe«. Perfekt, perfekt, Watanabe! Damit käme er sicher durch den Zoll. Aber solange er keine Maschine hatte, ...?
Schließlich nahm er einen Kaugummi, kaute ein paar Mal darauf herum und klebte den Chip mit der Kopie der Geheimdokumente hinter die Lüftung, deren Gitterabdeckung er zuvor entfernt hatte. Dort würde ihn niemand finden. Das war gut. Und sein Cleverphone behielt er wie immer bei sich. Er würde den Chip für die Agency mit etwas Geschick wieder herausoperieren müssen, sobald er bei besagtem Jack wäre. Bis dahin waren die Dateien im Phone besser aufgehoben.
Jetzt blickte er zum Tisch, auf dem immer noch der Schädel mit dem abgetrennten Kiefer lag. Als er ihn anstarrte, bekam er eine Gänsehaut. Während der ganzen Aktion mit dem Chip hatte er vollkommen vergessen, wessen Schädel er da vor sich hatte: Es war der Schädel des Mörders seiner Mutter.
Jetzt schnürte ihm diese Erkenntnis die Kehle zu. Wie gebannt starrte er den Totenkopf an. Ganz so, als erwartete er, dass dieser nun zu sprechen beginnen würde. Furcht und Faszination überkamen ihn. Er fragte sich, welche Geschichte er zu erzählen hatte. Ob es wohl dieselbe war, die ihm sein Vater in seinem Brief erzählt hatte?
Die großen, dunklen Augenhöhlen hatten etwas Geheimnisvolles an sich. Doch je länger Watanabe sie betrachtete, desto harmloser erschienen sie ihm. Der Totenkopf sah auf einmal aus wie ein trauriges Fundstück oder wie eine Requisite von einem Filmset, die ein Requisiteur aus Versehen hier liegen gelassen hatte. Watanabe dachte an Ayumis verrückte Schlussfolgerungen und fragte sich, ob dieser Schädel vielleicht wirklich verflucht war. Aber nein! Und wenn es in Zukunft im Kindergarten spuken sollte, dann nur, weil der Kopf nicht bei seinem Körper war. Er sollte ihn zurückbringen. Einen Moment lang sah sich Watanabe schon wieder durch den Zaun klettern. War er das dem Toten nicht schuldig? ... Aber wie konnte er dem Mörder seiner Mutter etwas schuldig sein? Nein, das ginge doch gar nicht.
Watanabe atmete laut aus. Jetzt hätte er gut einen Skylight-Cocktail vertragen können. Sogar so einen spritigen wie den von der Bar nebenan.
Während seine Augen immer noch auf der gruseligen Requisite ruhten, wanderten seine Gedanken weit fort, weit in die Vergangenheit zurück. Aus irgendeinem Grund kamen jetzt Bilder in ihm hoch. Er sah seine Obasan Hana und dann den Geist vor dem Spielplatz. Und plötzlich vibrierte alles. Er schloss seine Augen. Jetzt war er ein kleiner Junge. Da war eine lange Wand und am Ende stand seine Mutter. Sie sprach mit jemandem. Er rief sie. Sie hörte ihn nicht. Er lief auf sie zu. Neben ihr stand ein Mann. Dieser beugte sich nun zu ihm herunter. Er lachte und streichelte seine Wange. Er sagte etwas zu ihm. Was sagte er ...?
Jemand rief etwas. Wieder hörte er es. Als ein Auto hupte, wurde dem großen Takumi klar, dass das Geräusch aus der Wirklichkeit kam und nicht aus seiner Erinnerung. Er öffnete seine Augen wieder und schüttelte sich. Dann lief er schnell zum Schädel und stopfte ihn in Tatsuos Tasche.
Dabei dachte er, sein lieber Freund möge ihm noch einmal verzeihen und sah sich um. Die Stimmen wurden wieder leiser. Es waren Hotelgäste, die ihre Zimmer weiter hinten auf dieser Etage hatten. Takumi atmete erleichtert aus. Er legte den Schädel einfach in den Mülleimer, weil ihm im Moment kein besserer Platz dafür einfiel. Aus dem Fenster oder in die Toilette konnte er ihn schließlich nicht werfen. Er würde sich schon etwas einfallen lassen müssen. Er wollte sich sowieso noch einen Koffer besorgen. Vorsorglich hängte er nun das »Do not disturb«-Schild von außen an die Türklinke.
Kurz nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte und vor dem kleinen Kühlschrank kniete, um sich ein Fertiggericht zu holen, fiel ein Schuss. Watanabe erstarrte. Der Reissalat in seiner Hand zitterte. Dann hörte er, wie jemand die Treppe heraufkam. Er stellte den Salat zurück, kam hoch und lauschte. Schritte waren im Flur zu vernehmen. Da kam jemand. Und er suchte jetzt bestimmt nach der richtigen Zimmernummer, dachte Watanabe, denn er wurde immer langsamer.
Panisch sah er sich um. Die Plastikgabel auf dem Kühlschrank würde ihm nicht helfen. Warum hatte er sich keine Waffe besorgt? Sein Puls raste. Während er noch überlegte, wie weit es von seinem Fenster bis zur Straße war und ob er über irgendein Vordach klettern konnte, klopfte es an der Tür.
Bevor Watanabe etwas sagen konnte, wurde die Türklinke gedrückt, wieder und wieder. Jemand schoss auf das alte Schloss. Mehrere Einschusslöcher durchsiebten die Tür rund um den Griff. Das war ein Wahnsinniger! Und er hatte eine Super-Schnellfeuerwaffe.
Jetzt trat er ein. Es war der große Japaner. Sein Gesichtsausdruck verriet, dass er nicht die Absicht hatte, ihn am Leben zu lassen. Watanabes Augen weiteten sich, während sein Herzschlag in seinen Ohren hämmerte. Mit einem schnellen Reflex entschied er sich, das Element der Überraschung zu nutzen. Rasch trat er einen Schritt zur Seite, während seine Hand geschickt nach der großen Pistole des Japaners griff und sie ihm mit einer Bewegung aus der Hand schlug. Das metallische Klirren beim Aufprall auf den Boden und die Tatsache, dass sein Gegner ihn so schnell entwaffnet hatte, schien den Angreifer einen Moment lang aus der Fassung zu bringen. Watanabe war selbst erstaunt.
Jetzt packte ihn der Kerl. Sie rangen miteinander. Watanabe kämpfte wie ein Verzweifelter, und wäre es seine erste Judostunde nach zig Jahren mit Tatsuo gewesen, so hätte er jetzt vor Freude in die Hände geklatscht und gerufen: »Siehst du, ich kann es noch!« Er war überrascht, welche Ressourcen sein Körper mobilisierte. Wieder sprang er auf den Riesen zu. Doch diesmal war er zu übermütig gewesen, und ein Faustschlag traf ihn, sodass er auf den Fernseher stürzte und mit ihm zu Boden fiel.
Schnell rappelte sich Watanabe wieder auf und konnte dem anderen gerade noch entkommen.
Was ihm an Kraft fehlte, machte Watanabe an Schnelligkeit wett. Er setzte alle Techniken ein, die er vor Jahrzehnten gelernt hatte, und behielt einen kühlen Kopf, obwohl er spürte, dass der andere stärker war. Die beiden Männer wirbelten durch den Raum, ihre Körper prallten immer wieder aufeinander. Obwohl er mehrmals am Kopf, an den Armen, an der Brust und an den Beinen getroffen wurde, so spürte Watanabe jetzt keinen Schmerz. Um nichts in der Welt wollte er aufgeben und als Verlierer enden, nicht so und nicht hier, verdammt! Das war er sich und der Ehre seiner Familie schuldig.
»Watanabe, go! Watanabe, work!«, motivierte er sich innerlich immer wieder. So hatte er einst seine Küchenmaschine beim ersten Durchgang angefeuert. Eine ganze Jury hatte gespannt davorgestanden. Doch jetzt wirbelten keine Reibeblätter oder Schaumschläger durch die Luft, sondern seine Arme und Beine.
Trotz aller Bemühungen konnte Watanabe nicht verhindern, dass der andere am Ende die Oberhand behielt. Mit einem geschickten Ausweichmanöver brachte er Watanabe aus dem Gleichgewicht und warf ihn zu Boden. Im nächsten Moment spürte dieser nun den kalten Stahl einer Waffe an seinem Kopf. Der Fremde siegte erneut und lachte kalt. Die Drohung, die in seinem Blick lag, war nicht zu übersehen.
»Jetzt komm mit mir, Watanabe!«, sagte er mit eisiger Stimme auf Japanisch. «Du bist kein Agent, du bist ein Verräter. Und dafür wirst du bezahlen.«
Watanabe erkannte, dass seine einzige Chance darin bestand, jetzt auf Zeit zu spielen. Sein Verstand arbeitete fieberhaft, während er nach einer Möglichkeit suchte, diese ausweglose Situation zu überleben. Er spürte die Kälte der Waffe an seinem Kopf.
»Warten Sie bitte! Wenn Sie mich jetzt töten, dann erfahren Sie nie, wo der Chip ist. Es gibt einen Weg, sich zu einigen. Lassen Sie uns reden. Sie sind nicht Jack, oder?«
Der Angreifer lachte. »Sehe ich etwa aus wie ein dummer Amerikaner? Nein, ich bin Japaner, genau wie du. Aber im Gegensatz zu dir verrate ich mein Land nicht und gebe keine nationalen Geheiminformationen preis. Also, wo ist der Chip?«
Er griff nach seiner Pistole, die im Flur gelandet war, und richtete sie erneut auf Watanabe. Mit der anderen Hand strich er sich die dunkle Anzugjacke glatt. Er wirkte auf einmal nicht mehr so entschlossen, ihn zu töten, dachte Watanabe.
Vermutlich wäre er selbst ein toter Mann, wenn er beim japanischen Geheimdienst ohne den Chip auftauchen würde. Jetzt sah er sogar recht freundlich aus, was sonderbar unpassend war in diesem Moment. Er schien die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zu erwägen. Die Waffe sank millimeterweise tiefer, bis er sie nur noch so lässig auf Hüfthöhe hielt wie einen Zügel für eine Kutsche. Watanabe erkannte jetzt einen Ebenbürtigen in ihm. Ihm kam der vorherige Kampf mehr als überflüssig vor.
Nun meldeten sich sämtliche Zellen seines Körpers, seine Arme und Beine pulsierten und begannen bereits an sämtlichen Stellen zu schmerzen. Er wich dem Blick des anderen nicht aus. Er hatte lange genug in der Geschäftswelt verhandelt, um auch solche scheinbar verschlossenen Gesichter lesen zu können. Dieser Mann, dachte er, ist ein Getriebener. Und das, was er hier macht, das macht er bestimmt nicht aus freien Stücken. Vielleicht haben sie seine Frau entführt oder seine Kinder, wer weiß?
Plötzlich fiel Watanabes Blick auf sein Cleverphone, das während des Kampfes unter das Bett gefallen war. Er konnte es gerade noch sehen. Zum Glück hatte der andere es nicht gesehen. Schnell schaute Watanabe ihm wieder in die Augen. Plötzlich trat der große Fremde lächelnd einen Schritt zurück und senkte seine Waffe ganz.
»Also gut. Lass uns reden!«, meinte er schließlich und gab ihm eine letzte Chance. »Ich höre dir zu. Aber mach nicht zu lange!« Er sah auf seine Uhr.
»Ich gebe dir fünf Minuten. Das ist alles.«
Jetzt musste Watanabe sein Verhandlungsgeschick unter Beweis stellen. Noch während er sich nervös aufs Bett setzte und sich eine Geschichte ausdachte, wo er den Chip versteckt haben könnte, wurde die Tür aufgerissen und es fiel ein Schuss. Der Japaner, der mit dem Rücken zur Tür gestanden hatte, blutete plötzlich aus der Brust. Er griff sich mit einer Hand ans Herz und sackte zu Boden. Es klackte, als sein Revolver neben ihm aufs Holz fiel. Jetzt blickte Watanabe auf. Er traute seinen Augen kaum: In der Tür stand Oumu mit einer Pistole in der Hand.
geschrieben von Bente Amlandt am 30.01.2024
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