Eine Gedankenwanderung durch Traum oder Wirklichkeit
Ich gehe einen Gang entlang, der sich weit vor mir erstreckt. Auf jeder Seite ein Kaleidoskop von Türen, die in die unterschiedlichsten Welten einladen - stumm und passiv. Hinter jeder Schwelle erwartet mich ein neuer Raum, gefüllt mit Stille und Gegenständen, die wie Wächter vergangener Momente Geschichten in sich bergen. Ich lasse meinen Blick über Regale, Tische und Nischen schweifen, lasse meine Gedanken mit jedem Fundstück auf die Reise gehen.
In einem dieser Räume, auf einer Anrichte, erblicke ich einen Stein, dessen Farben im Licht spielen. Kaum habe ich ihn wahrgenommen, läuft in mir ein Film ab. Szenen einer Strandwanderin, deren Füße den kühlen Sand berühren, spielen sich vor meinen Augen ab. Sie ist allein, bewegt sich am Rande der einsamen Brandung, bückt sich und hebt diesen Stein auf. Sie hält ihn in der Hand. Sie ist am Leben in diesem Augenblick. Wer weiß? Vielleicht vergisst sie ihre Einsamkeit. Vielleicht genießt sie diesen Moment, den Augenblick, das Meeresrauschen. Alles, was ihr der Tag hier, heute und jetzt schenkt. Durch das Halten des Steines wird es wahr. Und diese Wahrheit muss mitgenommen werden wie ein Zeuge der Gegenwart für spätere, düstere Stunden. Ein Glücksbringer voller Wellen, Sonne, Strand und Farben. Er gleitet in ihre Tasche.
Tage oder vielleicht Wochen später findet sie ihn wieder beim Ausmisten ihrer Tasche im Büro. Erinnert sie sich an den Tag, den Moment? Das bleibt ihr Geheimnis. Sie legt den Stein zwischen Kerze und Kalender ab. Dort thront er nun wie eine Trophäe, eine kleine Opfergabe fürs Universum in ihrem ansonsten recht sterilen und karg eingerichteten Büro. Doch ich sehe ihn und ich spüre diese ganze Geschichte in mir in einem Moment ohne Zeit. Denn der Stein verschluckt alles um sich herum, er transportiert nur dieses Gefühl, diese Mischung aus Einsamkeit und Glücksmoment in einem. Zwei Seiten einer Medaille. Freiheit und Schwere, Festhalten und Loslassen, Gehen und Bleiben.
Der Stein, nun seiner Umgebung entfremdet, liegt vor mir als ein stiller Begleiter und Zeuge einer Erinnerung, die nur ihr gehört, der Frau, die hier mehr Stunden am Tag verbringt als ich, der Person, die hier arbeitet. Er ist das Bindeglied zwischen einem Tag am Meer und diesem kühlen Büroraum.
Beim Verlassen des Zimmers bemerke ich eine Traurigkeit, die mich befällt. Sie kommt mir vor wie ein Echo der Einsamkeit, die ich soeben gespürt habe. Tränen steigen mir in die Augen. Und ich kann nicht anders: Ich muss mit dem Kopf schütteln und denke, wie verrückt es ist, dass ich mich soeben selbst zu Tränen gerührt habe mit einer Geschichte, die doch vermutlich nur meiner Fantasie entsprungen ist. Oder? Oder habe ich die wahre Stein-Geschichte zufällig aus seinem Dunstfeld aufgeschnappt im stillen Büro am Abend?
Meine Schritte hallen im Korridor wider, während ich über die Unwahrscheinlichkeit meiner Eingebung nachdenke. Könnte dieser Stein nicht einfach nur ein Stein sein? Ist er nicht nur zufällig hier abgelegt worden und bedeutet rein gar nichts?
Nein. Der Verdacht nistet sich hartnäckig in mir ein: Dinge an einem solchen Ort, an einem Schreibtisch, an dem täglich Leben gestaltet wird, sind selten bedeutungslos. Sie sind Ankerpunkte in einem Meer von Alltag, kleine Leuchtfeuer, die uns navigieren helfen.
Es bleibt das Rätsel dieser stillen Symbole, die viel mehr bedeuten können, als der flüchtige Blick es vermuten lässt. Und in diesem Nichtwissen liegt die Poesie, die mich umfängt, wenn ich die nächste Tür öffne und mich auf Entdeckungsreise begebe in Räume, die den Schatten vergessener Geschichten bergen. Dabei bin ich nicht einmal neugierig. Es ist nur so, dass die Räume mir Geschichten erzählen und dass die Gegenstände, die in ihnen liegen, oft weitere Kapitel in meinem Kopf entstehen lassen. So nehme ich immer etwas mit, wenn ich einen Raum verlasse und nur selten lasse ich etwas da. Vielleicht bleiben nur ein - zwei meiner Gedanken hängen, die ein anderer auffangen wird.
Copyright Bente Amlandt, geschrieben am 06.04.2024
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