Der 19. Stock
- 18. Feb.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Juni
Abwärts in die Zukunft
Kaum ein Mensch weiß es. Auch wir wussten es nicht, als wir durch die Türen des Hotels schritten. Uns empfing eine gedämpfte, gediegene Atmosphäre. Es roch hier wie in einer anderen Zeit. Wir wollten nur nach oben fahren, in den 18. Stock, um dort Fotos vom Restaurant aus auf die Bucht zu machen. Warnemünde von oben, das war unser Plan. So reihten wir uns ein, standen vor einer der sehr schmalen Fahrstuhltüren an, während neben uns Senioren und Familien mit Gepäck standen, eine ältere Frauengruppe fröhlich schnatterte und zwei Männer hinter Fadenvorhängen in der Raucherlounge Zigaretten rauchten, die wie Joints aussahen. Im vorderen Bereich hatten weitere ältere Herrschaften Platz genommen. Ich sah zwei Frauen um die 70, die sich in die Sessel drückten, als würden sie hierhergehören und als würden sie in Erinnerungen schwelgen. Sofort dachte ich, dass sie zu DDR-Zeiten hier feuchtfröhliche Feste gefeiert hatten, vielleicht mit Ordnungshütern, von denen sie nicht wussten, für welche Seite sie arbeiteten.
Der Fahrstuhl kam und kam nicht. Schließlich ließen wir eine Frau mit großem Hund in den Aufzug und warteten erneut. Denn der Hund hatte so ausgesehen, als hätte er die halbe Ostsee mit im Fell. Endlich war es so weit und wir fuhren nach oben. Im fünften Stock stieg eine junge Frau dazu, die im zehnten ausstieg. Wir fuhren weiter. Nachdem sich die Türen im 18. Stock geöffnet hatten, betraten wir einen schmalen Flur. Wir sahen rechts eine Galerie aus kleinen gerahmten Fotos in einer Ecke. In der Mitte der Wand stand „Prominentengalerie“. Ich erkannte einige Musiker und Politiker, andere waren mir unbekannt. All diese Menschen waren schon hier gewesen. Wir scherzten und sagten, dass wir ein kleines gerahmtes Foto von uns dazu hängen sollten.
Dann gingen wir nach links zum Restaurant, das seine Türen geöffnet hatte und gut besucht war. Wir fragten die kleinere geschäftig auf uns zueilende Dame, ob wir hier einen Kaffee trinken könnten. Daraufhin erwiderte sie, dass es Kaffee nur nachmittags geben würde. Ich blickte rechts auf das Frühstücksbuffet und zögerte kurz. Sollten wir hier stattdessen frühstücken? Da wir schon in der Ferienwohnung Brötchen gegessen hatten, entschieden wir uns dazu, wieder kehrt zu machen.
Anschließend entdeckten wir eine Raucherlounge und betraten diese, um Fotos durchs Fenster zu machen. Da war die Stadt: Warnemünde von oben. Es sah ganz anders aus, als ich erwartet hatte. Die Dünen, die von unten wild und natürlich gewirkt hatten, lagen nun in Quadern hinter dem breiten Sandstrand und erinnerten mich zugleich an eine wüste Steppenlandschaft und auch mit den dunklen Gräsern unter bedecktem Himmel an die Trümmer einer zerbombten Stadt. Die lange graue Straße, die hinter den Dünen zum Leuchtturm führte, zog eine schnurgerade Bahn auf das Wahrzeichen Warnemündes zu. Alle stattlichen Bauten, die Jugendstilhotels und kleineren alten Stadtvillen und Häuser wirkten wie zufällig zusammengewürfelt und an diesem Februarmorgen wie eine grau-weiße Ansammlung von Rechtecken und Quadraten, die müde und stumm neben dem ebenfalls jetzt schweigenden Leuchtturm lagen, als würden sie darauf warten, dass der Sommer sie und diese Stadt zum Erblühen bringt.
Wenn die Bäume grün sind, der Himmel blau und die Dünen hell, so dachte ich, dann müsste es von hier oben aus ganz anders aussehen, viel lebendiger und einladender. So aber war Warnemünde wie ein Mysterium am Ende der Welt, hinter dessen Wassergrenze eine weitere schmale Stadt begann, die „Hohe Düne“.
Ein Schiff lief ein. Es brachte Passagiere her, die sich schnell in den kleinen Gassen verteilen würden, in denen zu dieser Zeit nicht viel los war.
Wir nahmen auf der dunkelgrünen Lederbank Platz, in die tiefe Knöpfe eingegraben waren. Darüber hingen schmale Lampen in Zigarrenform, was ich für eine Raucherlounge sehr passend und originell fand. Wer hatte hier schon alles Platz genommen? Welche wichtigen Gespräche waren hier geführt worden? Weltbewegende Wortwechsel unter Prominenten und Politikern, deren Köpfe in tiefen Rauch gehüllt waren... Wer weiß.
Ein rotierender Motor, der den Rauch aus diesem Raum beförderte, gab uns das Gefühl, nun selbst - wie einst die Politiker dieser Welt - mit diesem Raum wie auf einem großen Dampfer unterwegs zu sein. Die Wahrnehmung der Zeit ist für alle Menschen unterschiedlich. Wer weiß denn, ob es das Schiff ist, das da draußen an uns vorbeizieht oder nicht eher das Hotel, das sich mit der Erdrotation um das Schiff herumdreht? Es hätte mich nicht gewundert, wenn wir jetzt mit der Raucherlounge und diesem Hotel fortgeflogen wären, während Warnemünde zu einem immer kleiner werdenden Fleck auf der Landkarte verschwimmen würde. Wie ein kleiner Stern könnte diese Hafenstadt gleich weit unter uns schweben und all die Menschen da unten würden immer noch denken, dass das Hotel an Ort und Stelle steht, während wir unsere Reise fortführen.
Und dann passierte es: Erneut öffneten sich die Fahrstuhltüren. Die Lichter darüber hatten nicht geblinkt. Ich achtete darauf. Die Pfeile kamen von oben. Alle, die nun ausstiegen, konnten nicht von unten zugestiegen sein. Sie mussten aus dem 19. Stock kommen. Doch es gab gar kein 19. Stockwerk, zumindest nicht auf den Tasten des Fahrstuhls. Diese Gäste waren anders gekleidet, so wie in den 60er, 70er und 80er Jahren. Verwundert blieben wir sitzen und beobachteten weiter. Und so wie jemand eine Eingebung erhält, so erhielt ich diese: aus dem 19. Stock des „Hotel Neptun“ kommen Zeitreisende. Hier kommen sie an, hier finden sie einen Platz und Unterschlupf, bevor sie sich langsam unter die Bevölkerung mischen.
18.02.2025
(c) Bente Amlandt 2025
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