top of page

35. Zwischen Raubtieren und Fischen



Während des Mondfestes war William gerade dabei, im Salon des Rathauses eine Krallenkrabbe zu öffnen, als der Bürgermeister Ivor Sandslak ihn fragte: »Kennst du einen Otis Golding?»

»Ja. Warum?»

»Er steht unten und will mit dir sprechen.»

Sofort ließ William das Messer sinken. Dann drückte er es dem verdutzten Pferdehändler Randolf in die Hand und meinte, er wäre gleich wieder zurück. Im Licht der Laternen vor dem Rathaus sah Otis wie eine Erscheinung aus einem skurrilen Kinderbuch aus. Er saß auf Williams Ribborgi-Pferd Attila, trug seinen breiten Rangerhut und hatte einige erlegte Kaninchen an seinen Sattel gebunden. Als er William sah, stieg er ab.

»Tyron hat mir gesagt, dass du hier bist.»

»Und? Hast du Lando gefunden?»

»Nein. In keinem der Clans. Aber ich war mit Kiko, dem besten Spurenleser des Grünen Clans, am Slómo unterwegs. Wir haben Hufspuren und die Fußabdrücke eines Kiemenmannes entdeckt. Außerdem die Reste eines Laponfisches. Es kann also sein, dass Lando dort war. Dann haben sich die Spuren verloren. Er muss von dort aus irgendwann den Fluss verlassen haben, um weiter in den Dschungel hineinzureiten. Kiko hat einen abgeschlagenen Schlangenkopf gefunden. Besitzt dein Sohn ein großes Buschmesser?» »Nicht, dass ich wüsste.»

»Mehr kann ich dir leider nicht sagen, William! Ich habe wirklich mein Bestes gegeben. Vor Beginn der roten Zone sind wir umgekehrt. Dort wollte nicht einmal Kiko weiter reiten. Es tut mir leid.», erklärte ihm Otis. »Und kein Mensch und keine Tudo von ganz Pagus würden mich dazu bringen, zu den Drittaugen zu reiten, das musst du verstehen!» »Natürlich! Zum heiligen Aureus! Bist du dir sicher, dass er so weit oben am Slómo war?» »Alles deutet darauf hin.»

Über ihnen wurde ein Fenster des Rathauses geöffnet.

»William, die Krallenkrabbe!», rief Randolf. »Ja doch! Bin gleich wieder da!», antwortete dieser genauso laut. »Ich danke dir, Otis! Bitte komm morgen nochmal in die Firma! Ich will mich dir erkenntlich zeigen.»

»Nicht nötig! Hab ich doch gern gemacht! Deine Tudo habe ich noch nicht einmal ausgegeben! Kiko hat mir zu Ehren ein Wellenreh gebraten. Sein Clan wollte nichts von mir annehmen.» »Behalte den Tudo-Chip! Ich muss zurück! Ich danke dir!»

»Moment noch!» Otis setzte sich auf Attila, dann sagte er etwas leiser: »Sag`s nicht dem Bürgermeister: Ich habe viele zerfleischte Duolkaris und Wellenrehe gesehen. Eine neue Spezies von Fossas breitet sich anscheinend im Dschungel aus.»

»Fossas?», fragte William verwundert.

»Riesenfossas! Sie scheinen wesentlich größer zu sein als die anderen Fossas. Ich kann mir vorstellen, dass sie auch nicht davor zurückschrecken würden, Menschen anzufallen. Aber bitte sag Ivor lieber nichts! Unter uns könnte das ja vielleicht auch das Verschwinden der Touristen erklären. Übrigens ist Attila ein wundervolles Pferd! Aber nun bringe ich ihn zurück in deinen Stall. Will, lass uns in den nächsten Tagen reden! Ich muss mich erstmal erholen!»

Recht überfordert sah William dem Ranger hinterher. Dann hörte er erneut, wie nach ihm gerufen wurde. Seufzend ging er wieder ins Rathaus und verteilte kurz darauf Krallenkrabbenfleisch auf die Teller. Seine Frau betrachtete ihn wie einen Angeklagten. Immer wieder war ihr Blick so tief und fast schon schmerzhaft, dass es William eine große Erleichterung verschaffte, auf dem Rückweg vom Rathaus in der Kutsche endlich mit ihr zu sprechen. Er teilte Nora alles mit, was Otis herausgefunden hatte. Zuhause angekommen, saßen sie eine Weile Arm in Arm auf dem Sofa vor dem Kamin. Nora sagte auf einmal: »Weißt du, was ich meinen Eltern gesagt habe, bevor ich dich geheiratet habe? Ich habe ihnen gesagt, dass ich dich liebe. Und ich habe ihnen gesagt, dass es für mich überhaupt keine Rolle spielt, dass du ein Kiemenmann bist!»

Von draußen hörten sie die Geräusche eines Feuerwerks. Irgendwo wurde mal wieder eine Hochzeit gefeiert.

William meinte leise: »Ich hoffe, dass er noch lebt.»

»Ja.», antwortete sie ihm und dachte, dass sie es als Erste spüren müsste, wenn ihr Sohn tot wäre. Bis jetzt fühlte es sich noch nicht danach an. Dann sagte sie: »Die Trohpa sind keine schlechten Menschen, William!»

»Doch! Erst recht die verfluchten Drittaugen!» Er sprang vom Sofa auf und ließ sie allein.

   

Auch Nora wurde in den nächsten Tagen tätig, allerdings versuchte sie, mit ganz anderen Methoden mehr über den Verbleib ihres Sohnes zu erfahren. Am nächsten Markttag empfahl ihr ihr geliebter Berrowak, zu Ricarda zu gehen. Bei dieser Trohpa handelte es sich um eine Wahrsagerin ohne ein Stirnauge. Sie hielt Noras Hand und konnte sie beruhigen. Ihr Sohn würde noch leben, ganz sicher. Woher sie das wüsste und warum sie sich dessen so sicher wäre, wollte Nora wissen. Obwohl sie ihr kein Foto gezeigt hatte und diese Frau sehr abgeschottet und ohne einen Toschgab in einem schäbigen Gartenhaus im Süden der Stadt lebte, beschrieb sie ihr auf einmal Lando so genau, dass ihrer nervösen Kundin ganz warm ums Herz wurde. Alle Attribute passten! Ja, er war ein großer Kiemenmann, attraktiv, fantasievoll und er liebte es, auszureiten und die Natur zu betrachten. Ricarda trug sehr viel Trohpa-Schmuck und besaß viele magische Objekte. Im Gegensatz zu William glaubte Nora, dass sie auf diese Art und Weise eine Verbindung zu ihrem Sohn herstellen könnte und beschloss, von nun an mindestens zwei Mal pro Monat zu dieser Frau zu reiten, um sich nach Lando zu erkundigen.

 

Trohpadi Vasno

 

Nachdem Lando allein in Chuchips Hütte aufgewacht war, dachte er über den letzten Abend nach. Heute Morgen fühlte er sich ganz klar im Kopf. Das war sonderbar an der Wirkung der Mondtnüsse: Sie hinterließen weder Kopfschmerzen noch sonstige Folgewirkungen. Lando konnte sich auch noch an alles erinnern und war sich dessen bewusst, dass Chuchip ihm einen Abend zuvor gesagt hatte, er hätte ein »verborgenes drittes Auge». Nun interpretierte er diese Aussage auf seine Weise. Vielleicht bedeutete das lediglich, dass er gewissermaßen ein guter Mensch war und als Zugereister hier den Drittaugen helfen könnte? Zumindest war er seitens des Clanführers erwünscht und könnte hier Gutes tun! Lando konnte sein Glück erneut kaum fassen und brannte darauf, von Chuchip in die magische Heilkunst der Magenas eingeweiht zu werden. Dennoch kam es ihm auch unheimlich vor, als »Bewahrer» zu gelten, denn er hatte keinen blassen Schimmer, was das genau bedeutete. Ob er diesem merkwürdigen Posten hier als einziger Mensch ohne ein drittes Auge gerecht werden könnte? Beging er auch nur einen einzigen kleinen Fehler oder enttäuschte er den Clanführer, so würden sie ihn vielleicht doch noch den Raubtieren zum Fraß vorwerfen. Oder einer der Wächter würde ihm im Dunkeln auflauern, um ihm die Kehle durchzuschneiden. So etwas traute er vor allem Slorra und Bekmo zu. Aber auch einige andere der Jäger und vor allem der Krieger Runkko wirkten so finster auf ihn, dass er stets einen großen Bogen um sie machte. Er bedauerte es zutiefst, dass Aponi nicht hier war. Seine Sehnsucht nach ihr war in Ostink groß gewesen, doch sie war nichts gegen das nun einsetzende Vermissen, das er körperlich zu spüren meinte. Natürlich konnte das Ziehen in seinen Sehnen und der Druck in seinen Gelenken auch noch immer dem Gift der Bleuelschlange geschuldet sein. Mitten in Aponis Clan fühlte er sich einfach hilflos ohne sie. Aponi hätte ihn doch sicher als hochangesehene Tochter des Clanführers den anderen noch hätte viel näherbringen können. Durch sie hätten die anderen ihn schneller als einen guten Menschen sehen können, als jemanden, von dem weder Gefahr noch der Wunsch nach Ausbeutung oder gar Zerstörung ihres Clans ausging. In Zukunft würde er sich an Chuchip halten müssen!

 Nun hörte er viele Stimmen und begab sich nach draußen. Die Trohpa trugen Angeln und Speere bei sich. Heute hatten sie sich blaue Stirnbänder umgebunden. Der Clanführer nickte ihm kurz zu, dann teilte er weiter die Gruppen ein. Einige Wächter blieben im Dorf. Die Jäger, die sonst in unterschiedliche Richtungen des Dschungels auszogen, hatten heute Pfeil und Bogen beiseitegelegt und hielten Speere in ihren Händen. Viele Magenas lächelten ihn an. In Landos Magen rumorte es, denn schlagartig wurde ihm bewusst, dass sie wahrscheinlich alle davon ausgingen, dass er ein begnadeter Fischer war. Sie wussten ja nicht, dass er all die Muscheln und Laponfische, die er Aponi für ihren Clan mitgegeben hatte, nicht einmal selbst aus dem Meer, sondern lediglich aus den Kühlkisten der Firma seines Vaters geholt hatte! Was, wenn er erneut, so wie damals schon beim Muscheltauchen, versagen würde? Was, wenn sie alle feststellen würden, dass er zwar Kiemen am Hals hatte, aber ihnen nicht einen einzigen ihrer ersehnten Trohpadi aus dem Slómo holen könnte? Immerhin, es war Laichzeit und die Fische schwammen in großen Schwärmen hierher. Er durfte jetzt nicht seinen eigenen Versagensängsten erliegen. Er müsste so tun, als wäre er wirklich der vom Wassergott Barrameo entsandte gute Kiemenmann.

Schweren Herzens folgte er den gutgelaunten Ureinwohnern zum Fluss. Die Kinder des Dorfes umringten ihn und baten ihn darum, ihnen »mindestens hundert Fische» zu fangen. Er lächelte und erklärte ihnen, dass er lieber erst einmal beim Speerfischen zusehen würde. Sie redeten alle durcheinander und sahen zu ihm auf. Er ließ sich dazu überreden, die sechsjährige Annuka auf seinen Schultern zu tragen. Sie bat ihn darum, anzuhalten, damit sie Pyllbackos von einem Baum pflücken konnte. Als Chuchip, seine Wächter und andere Trohpa an ihnen vorbeiliefen, hörte er einige von ihnen belustigte Kommentare rufen.

 Am Ufer angekommen, ließ er Annuka wieder herunter und stellte sich neben Vasno, der ihn freundlich begrüßte. Die Kleine lief zu ihren Spielgefährten. Wortlos musterten die beiden größten Männer des Clans das muntere Treiben am Fluss. Nach einem Trommelschlag Slorras kehrte Ruhe ein, auch die Kinder setzten sich still an die Uferböschung, sofern sie nicht mit in einem der Boote auf dem Fluss unterwegs waren. Noch nie in seinem Leben hatte Lando so etwas erlebt, denn, wo auch immer so viele Menschen wie hier versammelt waren, kam es seiner Erfahrung nach unwillkürlich zu einer gewissen Lautstärke, zu Getuschel, Gesprächen oder Gekicher. Doch hier schienen alle Menschen auf einmal zu verstummen und zu mit der Natur verbundenen Wesen zu mutieren, die noch viel leiser atmeten als ein Jagjaru vor seinem Angriff. Fast lautlos und wie in Zeitlupentempo betraten ein Dutzend Fischer, darunter Männer, Frauen und Jugendliche, den roten Sand am Slómo. Dann hob Chuchip eine Hand und sie gingen Schritt für Schritt in den Fluss hinein. Nur das Wasser und die Wellen an ihren Beinen, das übliche Rauschen, waren dabei zu vernehmen. Gespannt hielt Lando den Atem an und spürte, wie dieses Bild in ihn einging. Die Körperhaltungen, die senkrecht nach unten gehaltenen Speere, die völlige Konzentration und diese Anmut der langsamen Bewegungen kamen ihm wie ein heiliges Ritual vor, das so gar nichts mit dem ihm bekannten Fischfang zu tun hatte. In Ostink zogen sie von recht lauten, motorisierten Fischerbooten aus die Laponfische mit großen Netzen aus dem Meer. Auch das Muscheltauchen der Kiemenmänner war kein heiliger oder gar majestätisch wirkender Akt, sondern einfach ein »Aus-dem-Boden-Reißen» der Muscheln, bei dem es sowohl um Qualität, die Größe der Muscheln, als auch um Quantität ging. Wie schon so oft in den letzten Tagen kam Lando sich wie ein Mensch aus einer anderen Zeitzone vor. Es war ihm peinlich und unangenehm, dass sein Vater und all seine Angestellten so bedenkenlos Fische wie eine Massenware aus der Ostinker Bucht holten. Hier zählten keine Tudo und hier gab es keine Lagerhallen mit Kühlkisten. Hier lebte man von Tag zu Tag, Woche zu Woche, Monat zu Monat stets mit enormer Rücksicht auf die Jahreszeiten, die Konstellationen der Sonne und der Monde.


Mittlerweile standen alle Speerfischer bis zu den Knien oder Oberschenkeln im rauschenden Fluss. Von seiner Position aus konnte Lando ab und zu einige gegen die Strömung schwimmende Fische ausmachen. Ihre Köpfe und Flossen tauchten kurz auf wie ein schemenhaftes, gegenläufiges Gewässer. Es musste heute nur so wimmeln vor Trohpadi im Slomo! Als würden sie sich an die mündlich überlieferten Gesetze dieses magischen Clans halten, kamen die Fische pünktlich nach dem Barrameo-Fest zum Laichen hierher. Als hätten sie Chenoa gestern Nacht zugehört und würden nun wirklich ihren »magischen» Dienst im Auftrag Barrameos erfüllen!

Noch immer bewegten sich die Fischer wie in Zeitlupe, obwohl sie alle doch schon sehr viele Trohpadi gesehen und an ihren Beinen gespürt haben müssten. Dann begann Nodnoy in Sekundenschnelle sein Speer zu senken. Danach waren auch die anderen so schnell, dass Lando gar nicht mehr wusste, wo er hingucken sollte. Sie spießten einen dieser großen Fische nach dem anderen auf, es war wie das Rattern einer Nähmaschine. Mit fast jedem gekonnten Hieb machten sie Beute. Nach drei Trohpadi am Speer wurden diese an Land gebracht. Erst jetzt wurde wieder geredet. Die Konzentration war den Speerfischern immer noch anzumerken, aber sie scherzten auch ab und zu. Schließlich kamen immer mehr von ihnen ans Ufer zurück und setzten sich lächelnd und erschöpft, um sich von Alma und Giska einen kalten Tee reichen zu lassen.


 »Du bist also von Barrameo gesandt worden? Vom Wassergott persönlich?», fragte ihn Vasno auf einmal. Landos Nacken schmerzte, als er sich zu ihm umdrehte. Auch die letzte Nacht und der Genuss der zwei Mondtnüsse steckte ihm noch in den Knochen. »Ich weiß es nicht.», antwortete er ihm wahrheitsgemäß. Einen Mann wie Vasno konnte er schließlich nicht belügen! Daraufhin breitete sich auf dem schmalen Gesicht des Sehers ein Lächeln aus. Er warf Lando eine Pyllbackofrucht zu, die er sofort auffing. Lando biss hinein. Sie schmeckte besser als die ihm bekannten Pyllbackos aus Ostink. Nur Berrowak hatte auf dem Markt Pyllbackos gehabt, die ähnlich süß und saftig gewesen waren. Dann winkte er Kiruan zu, der ihm stolz einen großen Trohpadi zeigte, den er soeben von einem der Speere gelöst hatte.

»Sie warten auf dich! Du solltest ihnen zeigen, wie ein echter Kiemenmann Fische fängt!», riet ihm Vasno. Kurz darauf fragte er ihn: »Kann es sein, dass du Fische gar nicht magst?»

 »Ich habe kein Problem mit Fischen. Im Gegenteil!»

 Entschlossen schritt Lando auf den Slómo zu, zog sich sein Hemd und seine lange Hose aus und tauchte dann nur mit seiner blauen Shorts unter. Die Kinder jubelten und feuerten ihn an. Während dieser Handlung spürte er Vasnos Blick in seinem Rücken und auch, als er sich unter Wasser und zwischen den Wurzeln der Seerosen befand, hatte er noch immer das Gefühl, dass die Augen des Sehers ihn verfolgten. Landos Kiemen begannen zu arbeiten und er nahm sehr viel Sauerstoff auf. »Alles wird gut!», sagte er sich. Anschließend drehte er sich um, konzentrierte sich und harrte hinter einem Felsen aus. Über ihn schossen zahlreiche Fische hinweg. Es war unglaublich. Selbst in der Ostinker Bucht, in der er schon oft die Schwärme von Laponfischen gesehen hatte, waren es niemals so viele Fische auf einmal gewesen. Einige Meter neben sich sah er immer wieder, wie Speere zischend durchs Wasser drangen und die Trohpadi erwischten. Er wich noch weiter in den tieferen Fluss aus, um kein Speer abzukommen. Lando hatte kein Speer, nicht einmal ein Messer mitgenommen und auch nicht darüber nachgedacht. Er war einfach hineingegangen, weil er Vasno etwas hatte beweisen wollen, was ihm nun reichlich albern vorkam. Jetzt hockte er hier hinter einem Felsen und dachte daran, dass er von hier aus, einfach so mit der Flussströmung zurück bis nach Ostink schwimmen könnte. Aponi war eh nicht in diesem Clan. Er hätte jetzt einfach dem gesamten langen Slómo folgen können und wäre dann in der Bucht wieder aufgetaucht, über der der Klippenwächter Wulf Hartwig sicher wie immer saß. Was er wohl gesagt hätte, wenn Lando einfach so vor ihm aus dem Meer aufgetaucht wäre?


 Er sah zu seiner Rechten immer weniger Speerfischer. Wahrscheinlich waren sie erschöpft oder es reichte schon? Dann griff er instinktiv nach oben und bekam einen Trohpadi zu fassen. Der Fisch war unglaublich glatt und glitschig, doch Lando drückte zu wie eine Krallenkrabbe. Schnell warf er ihn ans Ufer, eilte hinterher und schlug ihm aus Ermangelung eines anderen Werkzeugs mit der Faust auf den Kopf. Die Kinder waren genauso begeistert wie einige der Frauen. Auch Vasno nickte ihm lächelnd zu. Aus dem Fluss und auch vom Ufer her wurde Lando gelobt.

»Habt ihr das gesehen? Hutmann hat einen riesigen Trohpadi erwischt! Ganz ohne ein Speer! Mit seinen bloßen Händen!», rief Kiruan aufgeregt.

»Na und? Als Kiemenmann und Fischer sollte er so etwas ja wohl auch können!», rief Bekmo, der neben seinem Kollegen Slorra stand und die Kerne einer Pyllbacko ausspuckte. Erst jetzt sah Lando, dass der Fisch ein drittes Auge gehabt hatte. Eine Hälfte davon klebte ihm noch an seiner Handkante. Ein wenig angewidert sah er zum Trohpadi hinunter, der nun von Kiruan begutachtet wurde. Der von ihm erlegte Fisch war so lang wie sein Unterarm und so dick wie eine Baumwurzel eines Pyllbackos. Er war türkisblau und hatte ein drittes Auge. Die Fische, die er im letzten Sommer gemeinsam mit Aponi geangelt hatte, hatte sie auch als »Trohpadi» bezeichnet, doch keiner von ihnen hatte drei Augen gehabt. Verwundert sah Lando hoch. Vasno war verschwunden. Doch Isdarra, die weißgefärbte Seherin, deren Gesichtsausdruck er nie deuten konnte, musterte ihn kurz, bevor sie weiter an einem Pfeil schnitzte und sich zur Schlangenfrau Pikkta lehnte, die ihn noch finsterer anblickte, ganz so, als hätte er mit dem Erlegen dieses Fisches etwas Verbotenes getan. Jedes Mal, wenn er in Pikktas von unzähligen Tätowierungen übersätes Gesicht sah, erkannte er andere Symbole und jedes Mal blickte er so schnell wieder weg, als trüge sie kein Stirnband über ihrem dritten Auge. Er war sich sicher, dass diese Frau, die als Chenoas Nachfolgerin galt, dem Wassergott Barrameo nicht so ergeben war wie die Allseherin oder zumindest keine Kiemenmenschen wie ihn mochte. Sie schien überhaupt nicht viele Menschen zu mögen. Es missfiel ihm, dass sie ausgerechnet mit Isdarra, die stets auf ihn achten sollte, ein so viel vertrauteres Verhältnis zu haben schien, als er es gedacht hätte. Er müsste aufpassen, was er Isdarra erzählte!

Da saßen diese beiden weißgefärbten jungen Frauen nun nebeneinander im Schatten einer Palme, tuschelten miteinander und wirkten auf ihn tausend Mal schlimmer als tratschende Ostinker Marktweiber. Denn diese schlanken Frauen verströmten beide nicht nur aufgrund ihrer recht harten Gesichtszüge und ihrer merkwürdigen Gewänder, die ihn an Nachthemden erinnerten, sondern auch aufgrund ihrer Knochenketten etwas dermaßen Unheimliches, dass sie jetzt, so wie da saßen, auch eine Vision hätten sein können. Wie zwei Geister, deren helle Haare und Kleider trotz des Schattens leuchteten. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie sich von einer Sekunde auf die andere in ein Nichts aufgelöst hätten oder wenn Pikkta sich in eine Schlange verwandelt hätte.


Kiruan holte ihn wieder zurück aus seinen Gedanken und seiner erstarrten Haltung.

»So einen großen Trohpadi habe ich noch nie gesehen!»

Noch einmal blickte Lando nun zu dem toten Fisch, der vor ihm im Gras lag.

»Sie haben wirklich drei Augen.», murmelte er. Kiruan hatte seinen Kommentar gehört. Entrüstet äußerte er: »Natürlich, was dachtest du denn?» Er lachte und rief dann den anderen Kindern zu, dass Hutmann wohl noch nie einen echten Trohpadi gesehen hätte. Kiruans kurzer schwarzer Haarschopf stand wie immer wirr hoch, seine kahlen Schläfen betonten seine kleinen Segelohren. Er schien Lando der Aufgeweckteste und Mutigste der Kinderschar zu sein. Kiruans Freunde eilten herbei.

»Kannst du mit diesen Rillen am Hals atmen?»

»Das sind Kiemen, Annuka! Natürlich!»

»Wie lange kannst du denn unter Wasser bleiben?», wollte der schlaksige Ellwolk wissen, der schon etwas älter als die anderen war.

»So lange ich will.», antwortete Lando ihm lächelnd. Das sorgte für offene Münder und eine erneute Frage des Jungen.

»Dann könntest du dein ganzes Leben auch im Fluss verbringen?»

»Ja, aber ehrlich gesagt finde ich es hier oben mit euch viel schöner!»

Daraufhin strahlte Annuka ihn an. Ihr fehlte ein Schneidezahn, was ihr die Aussprache erschwerte. Sie stimmte ihm zu: »Ich würde auch nicht so gerne im Wasser leben wollen.» Dabei zischten die Laute nur so aus ihrem kleinen Mund.

In Ostink hatte Lando sich ab und zu mit den Söhnen des Klippenwächters unterhalten. Die Kiemenjungen Benny und Fredo waren sein einziger Kontakt zu Kindern gewesen. Er hatte nicht damit gerechnet, wie viel Freude es ihm plötzlich bereitete, sich mit den Söhnen und Töchter der Magenas zu unterhalten.


Anschließend erlegte er noch drei weitere Fische. Dann stapfte er ans Ufer zurück und setzte sich an die Böschung. Schließlich verkündete Chuchip, dass es für heute genug wäre. Die Speerfischer kamen an Land. Vasno setzte sich neben ihn.

»Du wusstest wirklich nicht, dass es dreiäugige Fische gibt.»

Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Feststellung.

»Nein. Aponi hat die anderen Flussfische, die wir gemeinsam im Sommer geangelt haben, auch als `Trohpadi` bezeichnet und sie hatten keine drei Augen.»

»Nenn nicht ihren Namen! ... Sie hat damit nicht gelogen. Weißt du, viele Trohpa nennen sämtliche Fische des Slómos so, die hier ihre Laichgründe haben. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um die zweiäugige Variante?» Er deutete auf einen der prallgefüllten Körbe, die gerade von zwei Fischern an ihnen vorbeigetragen wurden. »Aber bei diesen hier handelt es sich um die echten Trohpadi!»

Lando nickte. Er war gespannt, wie die Fische schmecken würden und hatte dennoch auch ein bisschen Angst davor, einen von ihnen zu essen.

»Dafür, dass du vorhin offensichtlich Angst vorm Fischen hattest, warst du wirklich gut.», lobte ihn Vasno.

»Danke! Was siehst du denn noch alles? Du bist doch ein Seher, oder?»

 »Natürlich! Was willst du wissen?»

»Kannst du vielleicht auch in meine Vergangenheit sehen, obwohl das niemandem bisher gelungen ist?», fragte Lando ihn.

»Dafür müssten wir uns ganz in Ruhe auf der Plattform oder woanders befinden. Willst du, dass ich oder jemand von uns es noch einmal versucht, in deine Vergangenheit zu blicken?»

»Nein, eigentlich nicht.»

»Warum fragst du mich dann danach? War es eine Frage, die deiner Angst geschuldet war?» Vasno lächelte.

»Wahrscheinlich.», antwortete ihm Lando.

»Chuchip hält große Stücke auf dich. Nicht umsonst sollen Isdarra und ich gut auf dich aufpassen.»

»Isdarra.», wiederholte Lando.

Vasno bestätigte ihm: »Ja, sie ist eine hervorragende Jägerin. Aber eine noch bessere Seherin. Im Übrigen wird sie dich nicht aus den Augen lassen!»

»Das ist gut.», äußerte Lando, wobei er das Gegenteil dachte und nur hoffte, dass diese Frau schnell fortging und ihn in Ruhe ließ.

Auf einmal flüsterte der Seher: »Grill die Fische heute nicht!»

»Wie meinst du das?»

»So, wie ich es sage! Lass es die Magenas machen! Du solltest nicht ans Feuer gehen! Du kannst uns später mal zeigen, wie man Fische in Ostink zubereitet. Aber nicht heute!»

»Verstehe.» 

»Sie brauchen Zeit. Sie brauchen Zeit, um sich an einen neuen Menschen zu gewöhnen. Ich habe Chuchip versprochen, auf dich aufzupassen und ich werde dir helfen. Nimmst du meine Hilfe an?»

»Ja. Gern.» Lando blieb sitzen und winkte nur ab, als die Kinder ihn darum baten, mit ihnen zum Feuerplatz zu kommen.

»In Ostink war ich kein guter Fischer. Ich meine, ich war nie ein guter Muscheltaucher.» Er lachte kurz auf. »Sie haben mich sogar `den schlechtesten Muscheltaucher aller Zeiten` genannt! Ich hatte immer Angst vor dem Meer. Aber das hast du mit Sicherheit auch schon gewusst und in mir gesehen, oder?»

»Nein. Denn du hast keine Angst vorm Slómo.», antwortete der schöne schlanke Vasno, der nun wie eine Elfengestalt auf ihn wirkte. »Ich sehe dich. Aber nur hier und jetzt.»

Sie standen auf. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begleitete Vasno ihn bis zu seiner Hütte zurück. Auf dem Weg trafen sie viele aufgeregte und erfreute Trohpa mit Angeln oder Fischen in den Händen. Vor seiner Hütte sah Lando den Seher an und wollte ihn fragen, ob er nun auch noch mit hineinkommen wollte, doch Vasno setzte sich einfach davor und begrüßte Isdarra, die neben ihm Platz nahm.

»Na - wunderbar!», dachte Lando genervt. Jetzt hockten diese beiden Seher vor dem Ausgang, um auf ihn aufzupassen! Doch ganz spontan beruhigte er sich wieder, weil es vielleicht gar nicht so schlecht wäre, sie dort draußen zu wissen. Zumindest Vasno wollte ihm nichts Böses. Das Trohpadi-Fest heute gehörte den Magenas und er wollte sie weder stören noch sich falsch benehmen.


Auf einmal öffnete sich die Tür einen spaltbreit. Vasno schob ihm einen großen Teller mit einem gegrillten Trohpadi hinein. Er lächelte ihm noch einmal zu und sagte dann: »Guten Appetit, Mann vom Meer!»

Die Flussfische, die doppelt so groß waren wie die ihm bekannten Laponfische des Meeres, bereiteten sie hier mit Kräutern und Bitterfruchtsaft über dem Feuer zu. Der Trohpadi schmeckte fantastisch. Nach dem Essen notierte Lando sich die Art der Zubereitung und zeichnete einen Trohpadi sowie die Speerfischer in sein Buch. Er fasste auch Chenoas Schilderungen über Barrameo zusammen. Danach schrieb er sich genau auf, wie Chuchip vorgegangen war, um das Schlangengift aus seinem Körper zu treiben: »Behandlung von Schlangenbissen/ Bleuelschlange: 1. Die Wunde wird ausgebrannt, 2. Ein Steinfrosch muss durch sanften Gesang zum Leben erweckt werden: ein grün-blau schimmernder Stein, der am Slómo liegt (Isdarra weiß, wo), beginnt dabei, seine Flügel auszubreiten. Er wird jedoch kriechend eingesetzt, muss über den Körper des Patienten wandern und dabei sein kühlendes, fiebersenkendes Sekret absondern., 3. Chuchip wendet eine magische Methode an, um den Geist Boddrunkos aus dem Körper zu treiben. Dafür lutscht er zuvor einige Mondtnüsse, begibt sich in Trance und legt seine beiden Steine (Oros anamgos?) auf Herz und Magen des Patienten, um eine Verbindung zu ihm herzustellen.»

 Mehr hatte der Clanführer ihm bis jetzt noch nicht erklärt. Lando hatte nur erfahren, dass er bei jeglichen Behandlungen von Vergiftungen immer in dieser Drei-Schritt-Methode vorgehen würde: 1. Wunde, 2. Körper, 3. Geist.


Danach schloss Lando das Buch wieder. Wie so oft sehnte er sich nach Aponi. Ob sie noch lebte? Er hatte Angst davor, einzuschlafen, weil er befürchtete, erneut unter schrecklichen fieberartigen Visionen zu leiden - wie während des Giftaustreibens. Außerdem lauschte er ständig, versuchte die Geräusche außerhalb seiner Hütte einzuordnen und malte sich aus, dass gleich Bekmo oder Slorra mit einem ihrer langen Messer vor ihm stehen würde. Umherschleichende Jagjarus könnten auch mit einem einzigen Prankenhieb das Leder und die Felle aufreißen, um sich ihn zu holen. Lando musste immer wieder an die Geschichte über Barrameo denken, die Chenoa erzählt hatte. Er hatte noch nie davon gehört, jedenfalls nicht so. In keiner der Sagen, die er in Ostink gelesen hatte und auch in keinem Buch über die Trohpa hatte etwas darüber gestanden, dass Barrameo hier einst gemeinsam mit Pagus gelebt hatte und dass er dreiäugige Fische, Echsen und Menschen erschaffen hatte. Allein Landos körperlicher Erschöpfung war es geschuldet, dass er schließlich doch einschlief. Endlich hatte er keine wirren Träume mehr.



14.12.2024


Bente Amlandt

Comments


bottom of page