22. Express
- 15. Feb. 2024
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juni

Watanabe und Yui saßen in ihrem gemütlichen Wohnzimmer und warteten auf den Besuch von Watanabes Vater Hiroshi, der aus Tokio angereist kam. Es sollte ein besonderer Tag werden, denn Watanabe wollte ihm mitteilen, dass er Yui heiraten würde.
Als es endlich klingelte und sich kurz darauf die Tür öffnete und Hiroshi eintrat, strahlte er. »Mein Sohn! Und Yui! «, rief er begeistert. Er umarmte sie herzlich. »Es ist so schön hier bei euch!«
Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und blieb an einem neuen, farbenfrohen Gemälde hängen, das Watanabe kürzlich von Kaito gekauft hatte. Es zeigte ein riesiges Schiff aus Papier, das auf dem Meer schwamm. Der Himmel darüber war golden gefärbt, als ginge die Sonne auf.
Hiroshis Augen weiteten sich vor Bewunderung und Interesse. »Ein beeindruckendes Kunstwerk«, sagte er fasziniert.
In diesem Moment betrat Madame de la Gorge den Raum mit einem Tablett voller Rosinenkuchen. »Herr Watanabe, diesen Kuchen habe ich extra für Ihren Besuch gebacken«, erklärte sie freundlich.
Hiroshi nahm einen Bissen von dem Kuchen und nickte zufrieden. »Wirklich außergewöhnlich lecker«, lobte er mit vollem Mund die neue Haushälterin der Watanabes.
Plötzlich klingelte ein Cleverphone. Takumi entschuldigte sich höflich und ging auf den Balkon, um den Anruf entgegenzunehmen. Zu seiner großen Überraschung war es Ayumi aus Tokio.
»Wie geht es dir, Watana?«, fragte sie ihn besorgt.
»Hallo Ayumi. Das ist ja eine Überraschung. Danke, gut. Wie geht es dir?«
»Ach, ich rufe an, weil... es mir leid tut, was passiert ist. Ich möchte dir mein Beileid aussprechen.«
»Dein Beileid? Warum? Ist jemand gestorben?«
»Oh Gott! Du weißt es noch nicht? Hat dir denn niemand Bescheid gesagt?«
»Nein. Was ist denn los?« Sie machte ihn ganz nervös.
»Na, dein Vater ist tot. Ein Bauarbeiter hat ihn beim Umbau einer Halle der Firma Goto Anderson gefunden. Er lag gefesselt in einem großen Stahlschacht.«
»Wie bitte? Nein, Ayumi, das kann nicht sein. Du musst dich irren.«
Sie erwiderte verwundert: »Warum sagst du das?«
»Weil mein Vater gerade hier bei uns im Wohnzimmer sitzt und mit uns Kuchen isst.«
»Was?«, rief Ayumi. Dann flüsterte sie: »Das kann nicht sein. Wer auch immer bei dir ist, es ist nicht dein Vater, Takumi. Das schwöre ich dir! ... Vielleicht ist ein Geist? Du kannst doch mit Geister reden?«
»Nein, das kann ich nicht. Aber ich sage dir, Hiroshi ist wirklich hier und isst Kuchen. Und...« Er verstummte und dachte: Eine KI kann nicht essen! Doch dann fielen ihm die Augen auf. Er hatte sie schon vorher bemerkt, aber jetzt, nachdem Ayumi diesen Zweifel gesät hatte, sah er noch einmal genauer hin. Dieser Mann dort, er hatte nicht Hiroshis Augen. Er hatte nicht die warmen braunen Augen seines Vaters, an die er sich noch allzu zu gut erinnerte, weil er sie doch gerade erst vor ein paar Wochen gesehen hatte. Nein, ihr Besucher hatte perfekte blaugraue Augen, die keine Wärme und nichts Menschliches an sich hatten.
Jetzt kam Yui zu ihm. »Ist alles in Ordnung? Kommst du gleich wieder rein?«
Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Sie kannte ihn gut genug. Und wahrscheinlich war er kreidebleich, dachte Watanabe. »Yui, würdest du bitte mit Madame zu Simone gehen?« »Jetzt?«
»Ja, sofort. Mach es einfach, bitte!«
Sie starrte ihn kurz an, dann warf sie ihrem gemeinsamen Gast einen besorgten Blick zu und nickte. »In Ordnung, ich verstehe.«
Nachdem sie gegangen waren, bedankte Watanabe sich bei Ayumi für diese Information und sagte, er würde sich später wieder melden. Dann ging er zu seinem Tresor, holte den Stick heraus und knallte ihn auf den Tisch. »Hier! Ich nehme an, deshalb bist du hier, Anderson?«
Der japanische Mann zuckte zusammen. Er sah ihn jetzt ernst an. »Das stimmt. Du bist schlau. Das hätte ich nicht gedacht.«
Watanabe antwortete: »Es ist mir egal, was du damit machst, solange du nur schnell verschwindest und dich nie wieder hier blicken lässt.«
»Verstehe. Ich bin Hiroshi.«
»Nein, du bist eine billige Kopie von ihm. Du bist nicht mein Vater. Denn mein Vater ist in Tokio. Vielleicht ist er sogar tot, was ich nicht glaube. Alles, was ich weiß, ist, dass du es jedenfalls nicht bist.«
»Gut. Das stimmt. Ich bin eine Hiroshi-KI der ersten Generation und deshalb hege ich auch Vatergefühle für dich. Ach, du bist scharfsinnig, mein Sohn. Denn dein Vater ist wirklich nicht tot.«
Er steckte den Datenstick in eine kleine Metalldose, die er dann in ein Fach seines Schuhabsatzes schob. Er stand auf. »Hiroshi lebt. Ich weiß nicht, wen sie in dem Anbau gefunden haben, aber Hiroshi ist es nicht.«
Jetzt zog er an etwas Gummiartigem und holte es aus seinem Hemd. Es war ein Auffangbehälter für Nahrungsmittel. Er ging damit in die Küche und warf den Beutel in den Mülleimer. »Irgendwann können wir auch mal richtig essen.« sagte er und lächelte.
Watanabe sah ihm verwundert nach, als er zur Tür ging. Dann sprang er auf und stellte sich ihm in den Weg. »Ich habe noch eine Frage: Wo ist mein Vater?«
»Er lässt sich in Florida die Sonne auf den Bauch scheinen. Ruf ihn doch mal an! Ich habe dir seine Nummer auf den Tisch gelegt.«
Während die japanische KI hinausging, sprintete Watanabe zum Tisch. In Windeseile holte er sein Cleverphone aus der Tasche und wählte die Nummer, die auf dem Zettel stand.
Dann hörte er Hiroshis Stimme und atmete erleichtert auf.
»Vater! Du lebst.« Er atmete erleichtert auf.
»Ja, Takumi, Junge! Wie schön, dass du anrufst. War er da? War dieses Scheusal da? Es tut mir leid. Sie haben mich erpresst. Es ging nicht anders. Sie wollten Obasan das Essen vergiften. Verdammt, das musst du doch verstehen. Ich musste ihnen sagen, wo du bist. Und wo sie diesen verdammten Stick finden können.«
»Haben sie dich gefoltert?«, fragte Takumi nach. »Vater? Wo steckst du?«
Die Verbindung war schlecht. »Ich bin in Paris... Ich bin hier in irgendeiner Kammer, in einer Kathedrale. Sie haben mir einen Beutel über den Kopf gezogen. Und nun sind sie weg und ich komme hier nicht raus. Warte, jetzt höre ich jemanden.«
Watanabe konnte es kaum glauben, als er Kaitos Stimme vernahm.
Er rief: »Hiroshi-san, wenn der Mann 'Kaito' heißt, dann gib ihn mir bitte! Dann bist du in Notre-Dame! Ich komme gleich zu dir!«
Es war Kaito. Watanabe schilderte ihm die Situation. Kurz darauf eilte er zur Kathedrale und nahm auf den Stufen von Notre-Dame erst seinen ganz verstörten Vater in die Arme und dann Kaito, bei dem er sich bedankte, als wenn er sonst etwas geleistet hätte. Er lud ihn ein, mit rüberzukommen, doch Kaito sollte gleich eine Führung geben.
So ging Watanabe mit Hiroshi zurück und klingelte bei Simone, um Yui abzuholen. Simone wollte erst nicht öffnen, bis Watanabe ihr versicherte, dass der Mann an seiner Seite nun aber wirklich sein Vater wäre und dass keine Gefahr mehr bestehen würde.
Als er eintrat, fiel ihm Yui um den Hals. Er erzählte ihr auf Japanisch, was passiert war, damit Madame de La Gorge nichts davon mitbekam, denn sie machte sich immer besonders viele Sorgen. Danach gingen sie mit den Frauen, auch mit Simone, die auf einmal Angst allein in ihrer Wohnung hatte, wieder nach oben, um endlich den neuen Rosinenkuchen von Madame de la Gorge zu probieren.
Nachdem sie alle Platz genommen hatten, erklärte seine neue Haushälterin auf einmal: »Wissen Sie eigentlich, warum ich Ihnen immer diesen Rosinenkuchen backe, Herr Watanabe? … Na, weil der doch mit der wunderbaren Watanabe-Express gemacht ist. Es ist das beste, einfachste und schnellste Rezept! Wussten Sie das etwa nicht?«
Watanabe verschluckte sich fast am Kuchen. Dann musste er lachen. Nun beteuerte auch Yui, wie wunderbar der Kuchen schmecken würde und dass auch sie nur noch mit der 'Express' kochen und backen wollte. Madame de la Gorge wollte es ihr beibringen.
Sie fragte, ob es nun eigentlich 'die' Watanabe-Express oder 'der' Watanabe-Express heißen würde, woraufhin niemand eine Antwort wusste, nicht einmal der Erfinder selbst.
Watanabe meinte, das wäre jedem selbst überlassen, solange man die Maschine nur kaufte. Daraufhin lachten alle erneut.
Während die Frauen Rezepte austauschten und Hiroshi ins Bad ging, um zu duschen, betrachtete Watanabe das Gemälde von Kaito. Er konzentrierte sich darauf, um nicht wieder an den Vorfall von eben denken zu müssen und sich zu beruhigen. Er sah so viel in dem Bild. Die Farben erinnerten ihn an Tokio, an die Abende mit Tatsuo, Ayumi und Yui und an das Licht in den Bergen von Akimura an dem Morgen nach dem Taifun.
Plötzlich griff Madame de la Gorge in ihre Küchenschürze und sagte: »Ach, das hätte ich fast vergessen: Ich habe noch einen Brief für Sie, Herr Watanabe. Schauen Sie, er kommt aus Grönland!"
Watanabe nahm ihn an sich. Als er den Absender las, traute er seinen Augen kaum: Da stand sein eigener Name: Takumi Goro Watanabe.
Er sah auf die Briefmarke oben rechts. Sie war im Jahr 2163 abgestempelt worden. Das Datum lag in der Zukunft. Es war heute in vierzig Jahren! ... Benutzte man da noch Briefmarken? War das ein doppelter Scherz?
»Und? Willst du ihn nicht öffnen?«, fragte Yui ihn.
Watanabe zögerte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, lieber nicht. Manchmal ist es besser, weniger zu wissen.«
Dann lobte er den Kuchen und streichelte Simones Kater, der auf seinen Schoß gesprungen war. Er lächelte in die fröhliche Runde und störte sich nicht daran, dass er Krümel und Katzenhaare auf seiner neuen Anzughose verteilte.
»Wollen wir uns nicht duzen?«, schlug er spontan vor.
»Aber ja«, sagte Madame de la Gorge, auch die Nachbarin nickte erfreut. Watanabe holte eine kleine Flasche Reiswein, die feinen Gläser und schenkte ein. Sie prosteten einander zu.
»Edith«, sagte Madame de la Gorge.
»Simone«, sagte Simone.
Watanabe stellte sich nach Yui als »Takumi Goro« vor.
»Aber Takumi reicht.« Er lächelte.
»Was für einen schönen Vornamen Sie haben, Herr Watanabe!« rief Madame de la
Gorge erfreut aus, die wahrscheinlich noch genauso lange brauchen würde, sich an 'Takumi' zu gewöhnen, wie er an 'Edith'.
»Ach, Watanabe bleibt Watanabe!«, sagte sie dann in Anlehnung an den Werbeslogan der Küchenmaschine, woraufhin alle erneut lachen mussten.
Am Abend, als Yui schon schlief, stand Takumi noch einmal auf und tappte barfuß ins Wohnzimmer, um dort Yuis Schiffchen aus seinem Jackett zu holen, das über seinem Schreibtischstuhl hing. Durch all die Turbulenzen hatte er es ganz vergessen. Andauernd war etwas los gewesen. Doch nun wollte er endlich nachsehen, was Yui ihm im Flugzeug geschrieben hatte. Er faltete das Schiffchen vorsichtig auseinander und da er kein Licht machen wollte, leuchtete er nun mit seinem Phone auf den japanischen Schriftzug.
Dort stand: 私は何も後悔していない Watashi wa nani mo kōkai shite inai.
Er lächelte. Es bedeutete: Je ne regrette rien.
Und es war das Beste, was ihm jemals jemand geschrieben hatte.
Er bückte sich und öffnete den Safe in seinem Schreibtisch, um das Schiffchen neben den zweiten Datenstick zu legen. Anschließend schob er auch den Brief hinein, der heute aus der Zukunft gekommen war.
ENDE
geschrieben von Bente Amlandt am 14.02.2024
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